Von Barbara Hoppe.
Als Frank Wedekind vor über 100 Jahren seine Dramen „Erdgeist“ und „Die Büchse der Pandora“ schrieb und sie anschließend zu „Lulu“ zusammenfasste, war die Zensurbehörde in Aufruhr. Zu skandalös war das Stück, zu freizügig, zu sehr legte es den Finger auf die Bigotterie der bürgerlichen Gesellschaft. Lulu als sogenannte Femme fatale, die jeden Mann ins Verderben stürzt, Lulu, die gleich zu Beginn des Dramas von einem Tierbändiger als das „wahre Tier, das wilde, schöne Tier“, als ungezügelte Kreatur angekündigt wird, galt als der Inbegriff der Sünde.
„Dabei macht diese Lulu eigentlich gar nicht so viel“, findet Marielle Sterra, die 2014 mit Dennis Depta zusammen die Musiktheatergruppe glanz&krawall gegründet hat. „Sie ist vielmehr eine Art leeres Gefäß, in das jeder der männlichen Protagonisten das hineingibt, was er selbst gerne hätte“, führt sie aus. Es sei schon erstaunlich, dass das Stück bis heute größtenteils immer noch von Männern inszeniert werde. „Bei verschiedenen Operninszenierungen ist uns aufgefallen, dass die Sängerin, die die Lulu spielt, von ihren Mitspielern oft an ganz vielen Körperstellen angefasst wird, um zu zeigen, dass sie sexuell attraktiv ist. Dabei ist das überhaupt nicht notwendig, um die Handlung zu verstehen“, betont Marielle Sterra. So würden aber Bilder, die das gewalttätige, übergriffige Verhalten von Männern gegenüber Frauen zeigen, immer wieder reproduziert. „Dem möchten wir mit unserer LULU etwas entgegensetzen und ein Gegenbild produzieren. Deswegen haben wir gar keine Männer in dieser Produktion, sondern die Frauen müssen die Männerfiguren selbst spielen, was natürlich zu einer gewissen Abstraktion und Distanz führt“, ergänzt Dennis Depta.
Mit einem kleinen Ensemble haben sich Sterra und Depta also daran gemacht, den Spieß umzudrehen. „Es ist natürlich extrem schwierig, die patriarchale und auch oft sehr misogyne Sicht des Stückes und seiner Inszenierungen zu unterwandern“, führt Marielle Sterra aus, die auch die Regie übernommen hat. Sie hätten es hier mit einer Weltsicht zu tun, die eine bestimmte Zeit widerspiegele und dennoch in verschiedenen Ausprägungen auch heute noch existiere. Damit die Transformation des Stücks gelingt, haben sich die Regisseurin und Dramaturg Dennis Depta lange und intensiv mit dem Originalmaterial und einer Vielzahl von Bearbeitungen auseinandergesetzt. Zu letzteren gehören neben dem Stummfilm „Die Büchse der Pandora“ von G.W. Pabst aus dem Jahr 1929 auch Alban Bergs Zwölfton-Oper „Lulu“ sowie das gemeinsame „Lulu“-Album des US-amerikanischen Singer-Songwriters Lou Reed und der Metal-Band Metallica von 2011. „Das haben wir uns alles zu Gemüte geführt und dann geschaut, wie wir das Ganze in einen Zirkus-Kosmos transformieren können, also dorthin, wo Wedekinds Drama beginnt“, erklärt Dennis Depta den Ansatz von glanz&krawall.
Lulu in der Manege mit Humor
Dabei ist die Manege auch Garant für den Humor in der Inszenierung. Ein moralisch-ernster Abend solle es nicht werden betonen die beiden Künstler einhellig. Es gehe vielmehr auch darum, gemeinsam über absurde Situationen und das Grauen der zwischenmenschlichen Beziehungen zu lachen. Dabei spielt die Musik eine wichtige Rolle. Punk-Songs werden ebenso zu hören sein wie Auszüge aus Alban Bergs Oper und eigene Songs. Das bedeutet für die einzigen drei Darstellerinnen – die Schauspielerin Lisa Heinrici, die Sopranistin Marieke Wikesjo sowie die Musikerin und Performerin Nolundi Tschudi – auch mal als Schlagzeugerin den Rhythmus vorzugeben. Oder in verschiedene Rollen zu schlüpfen. Nur drei Personen auf der Bühne sei schon herausfordernd gewesen, gibt Marielle Sterra zu. Der komplexe Theaterstoff musste geschickt zusammengefasst werden, sodass am Ende die verschiedenen Szenen mithilfe der Musik stimmig miteinander verbunden sind. Die Manege als Theaterbühne ist dabei ein klarer Vorteil, findet Dennis Depta: „Alles, was passiert, findet direkt vor dem Publikum statt. Ohne viel Beiwerk und mit der Möglichkeit, auch Anordnungen zu machen, die eher von einer Nummernform herrühren.“
Um auch die handwerklichen Grundlagen für eine Zirkusinszenierung zu lernen, hat sich das gesamte Team in Workshops auf die Besonderheiten von Zirkusnummern vorbereitet. Die intensive Probezeit beginnt dann ca. vier bis fünf Wochen vor der Premiere. Die passende Location haben glanz&krawall im Circus CABUWAZI auf dem Tempelhofer Feld gefunden. Ein toller Ort, finden Marielle Sterra und Dennis Depta, der mit seinem Freiraum irgendwie auch einen Bezug zur Lulu-Figur habe. Und vielleicht ergebe sich auch die Möglichkeit des Austausches mit dem Publikum. Immerhin wird „LULU“ nicht nur Teil des Monats für zeitgenössische Musik sein, sondern auch der erstmals in diesem Jahr stattfindenden Freien Szene Tage mit einem Publikumsgespräch zu „LULU“ am 5. September.
3. – 6. September 2024, 20 Uhr
LULU
CABUWAZI – der Kulturflughafen Tempelhofer Feld, Columbiadamm 84, Berlin
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Circus ring meets scandal play: “Lulu ” with glanz&krawall
Over 100 years ago, when Frank Wedekind wrote his plays „Earth Spirit“ and „Pandora’s Box“ and combined them into „Lulu,“ the piece caused a scandal. Lulu, portrayed as a femme fatale, was seen as the epitome of sin. However, Marielle Sterra from the music theater group glanz&krawall views Lulu as a „blank vessel“ into which men project their desires. She criticizes that even today, productions are often male-dominated and tend to reproduce violent behavior towards women.
In their new production of „LULU,“ Sterra and Dennis Depta turn the tables: women take on all roles, including the male ones. This decision creates a sense of detachment and challenges the patriarchal perspective of the original. The production is set in a circus universe, inspired by the beginning of Wedekind’s play. The circus ring becomes the stage, allowing the action to unfold directly before the audience.
Humor plays a significant role in this production, which explores absurd situations and the darkness of human relationships. The piece is musically accompanied by punk songs, excerpts from Alban Berg’s opera „Lulu,“ and original compositions. The three performers – Lisa Heinrici, Marieke Wikesjo, and Nolundi Tschudi – also take on musical duties and switch between different roles.
The production will be staged at Circus CABUWAZI on Tempelhofer Feld. The circus provides a fitting backdrop for the play and allows for interaction with the audience. „LULU“ is part of the Month of Contemporary Music and the Freie Szene Tage, which will conclude with an audience discussion on September 5th.
Sterra and Depta successfully offer a fresh perspective on Wedekind’s classic with their LULU production, questioning the patriarchal structures of the original.