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100 Jahre James Baldwin: Warum seine Werke zeitlos bleiben

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Literatur


James Baldwin hat nichts von seiner Faszination und Aktualität verloren. Von Birgit Koß.

In diesen Tagen ist viel über und von James Baldwin zu lesen – sein Geburtstag hat sich Anfang August zum hundertsten Mal gejährt. Dabei war der queere, afroamerikanische Romancier, Essayist und Aktivist nach seinem Tod im Dezember 1987 bei uns lange Zeit so gut wie vergessen, obwohl seine Aussagen immer noch sehr zutreffend sind und sein Werk – wie jede gute Literatur – zeitlos ist. Wie hatte er so schön gesagt, Afroamerikaner sein, heißt ein Afrikaner zu sein ohne das Bewusstsein von Tradition und Geschichte und ein Amerikaner ohne die weißen Privilegien und die damit verbundene Freiheit.

Ein zeitloser Schriftsteller und Aktivist

James Baldwin, für den die Literatur an erster Stelle stand, zog es immer wieder in die Ferne. In den USA fühlte er sich in seiner Rolle als Schwarzer früh gefangen und bedroht. So ging er mit 24 das erste Mal nach Paris, anschließend in die Schweiz, wo er in dem Bergdorf Leuckerbad seinen ersten Roman „Go Tell It on the Mountain“, mit dem er in den USA gerungen hatte, mit 29 Jahren beendete. Baldwin lebte auch in der 60er-Jahren zeitweilig in Istanbul und reiste in die Sowjetunion. Er starb am 1.Dezember 1987 in Sait-Paul-de Vence, in der Nähe von Nizza. Der Schriftsteller und Aktivist war u.a. eng befreundet mit Malcolm X, Martin Luther King, Toni Morrison und Maja Angelou, mit der er gemeinsam die Ermordung der beiden großen Männer, die für die Abschaffung der Segregation gekämpft hatten, betrauerte.

Ich erfuhr 2017 mehr über James Baldwin durch den Oskar nominierten Dokumentarfilm von Raoul Peck „I Am Not Your Negro“. Das unvollendete Manuskript „Remember This House“ von Baldwin bildet die Grundlage für Pecks filmische Collage aus Ausschnitten der Medienberichterstattung – vor allem aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts – in der er dem weißen Rassismus der amerikanischen Gesellschaft nachspürt. Zugleich folgt der Film der Biografie des Autors. Ich wollte mehr über diesen Intellektuellen erfahren. 2018 kam James Baldwin durch die „Black Lives Matter“– Bewegung wieder verstärkt in das allgemeine Bewusstsein, auch bei uns. Für ihn war immer klar: „Das Problem sind die Weißen, die keine Verantwortung für ihre Geschichte übernehmen und sich keine Rechenschaft darüber ablegen, warum sie …‚ den Neger erfinden musste‘“, wie Verena Lucken im Vorwort zu Baldwins Roman „Von dieser Welt“ schrieb. Dieses Debüt erschien ebenfalls 2018 in der Neuübersetzung von Miriam Mandelkow und eröffnete damit die dtv-Reihe der „Baldwin-Bibliothek“.

„Go Tell It on the Mountain“ – Ein Meilenstein in Baldwins Karriere

Go Tell It on the Mountain – Von dieser Welt“ ist ein stark autobiografisch geprägter Roman, über den 14-jährigen John Grimes, Adoptivsohn eines fanatischen Predigers – wie James Baldwin selber. Er setzt sich mit der übermächtigen moralischen Bedeutung der Kirche für die schwarze Bevölkerung auseinander und schafft damit eine für die Zeit typische Familiengeschichte und zugleich ein Gesellschaftsporträt der USA in den 40er-Jahren. Alle seine Figuren sind Schwarze, die in einer Gesellschaft leben, deren Ideologie von der weißen Überlegenheit geprägt wird und in der Segregation an der Tagesordnung ist. Lange hatte Baldwin sich mit diesem Roman gequält, um den richtigen Ton zu finden für die inneren Kämpfe des 14-Jährigen mit seiner Liebe zur Mutter und dem Hass auf seinen Stiefvater, und für seine Auseinandersetzung mit der Religion, der Sexualität und der allgegenwärtigen Bedrohung als Schwarzer Jugendlicher.

Erst als er New York verließ und sich schließlich nach seinem Aufenthalt in Paris in der Einsamkeit der Schweizer Berge wiederfand, wohin es ihn zu seinem Geliebten Lucien Happersberger gezogen hatte, gelang es dem jungen Autor sich mit Hilfe der Musik von Bessie Smith an seine Kindheit in Harlem so zu erinnern, dass er dafür die angemessene Sprache fand und damit auch den wunderbaren ersten Satz :„Alle hatten immer gesagt, John werde später mal Prediger, genau wie sein Vater.“ Wodurch sich die ganze Welt des jungen John Grimes und des Romans eröffnet.

Mit diesem Debüt legte er den Grundstein dafür, einer der größten amerikanischen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts zu werden. 1952 zur Veröffentlichung dieses Romans nach New York zurückgekehrt, gerät James Baldwin in die Zeit der McCarthy Ära. „Doch die Hexenjagd der antikommunistischen Verschwörungstheoretiker richtet sich nicht nur gegen die politische Linke, sondern zielt auf alle sogenannten ‚Subversiven‘, womit dezidiert auch Gays gemeint sind. Laverder Lads ist ein Begriff aus der Zeit jener Nachstellungen in den fünfziger Jahren, um Homosexuelle zu verunglimpfen und als ‚sexuell pervers‘ zu diskreditieren“, schreibt Sasha Marianna Salzmann im Nachwort zu Baldwins zweitem Roman „Giovannis Zimmer“. In den amerikanischen Zeitungen wurden damals die Morde an Schwulen erstmals als „True Crime“ ausgeschlachtet. Dies inspirierte Baldwin zu seinem zweiten Roman.

„Giovannis Zimmer“ und das Tabu der Homosexualität in den 1950er Jahren

Er beschreibt in „Giovanni‘s Room – Giovannis Zimmer“ die tiefe aber auch zerstörerische und damit verhängnisvolle Liebe des weißen verklemmten Amerikaners David zu dem ungestümen Italiener Giovanni im Paris der 50er-Jahre. 1984 sagte Baldwin in einem Interview zu diesem Roman: “Es geht darum, was einem passiert, wenn man Angst hat, jemanden zu lieben.“So schreibt er im Roman „Doch leider können sich die Menschen ihren Ankerplatz, ihre Liebhaber und ihre Freunde ebenso wenig aussuchen wie ihre Eltern. Das Leben gibt sie und nimmt sie, und die Schwierigkeit liegt darin, zum Leben ja zu sagen.“

Mit diesem bis heute wohl berühmtesten Roman begeht er Mitte der 50er-Jahre sowohl in den USA als auch in Europa einen Tabubruch. Ein Schwarzer Autor kann zu der Zeit über die Schwarze Community schreiben – aber über weiße Schwule? Es ist nicht einfach für ihn, einen Verleger zu finden, aber alle Anwürfe prallen an Baldwin ab, der selber frisch verliebt ist. Trotzdem weist er immer wieder vehement zurück, das „Giovannis Zimmer“ ein rein homosexueller Roman sei. So steht im schon vorher zitierten Nachwort von Sasha Marianne Salzmann: “Schwul ist nicht etwas, das er ist, sondern das, was er tut, sagt James Baldwin zu Richard Goldstein, einem der vehementesten Verfechter der Gay Rights in den USA der Siebzigerjahre. Goldstein zeigt sich pikiert von einem Interview, das Baldwin der New York Times Book Review gab, in dem der bereits zur Ikone avancierte Autor über alles spricht, außer über Homosexualität.“

Another Country“: Zwischen Rassenbeziehungen und sexueller Befreiung

Sein dritter Roman vom 1962 „Another Country“, der gleich bei seinem Erscheinen ein Bestseller und unter dem Titel „Ein anderes Land“ 2021 auf Deutsch neu aufgelegt wurde, handelt sowohl von Homo- als auch Bisexualität und von der bis 1967 in vielen Staaten der USA noch unter Strafe stehenden sexuellen Beziehung zwischen Schwarz und Weiß. Tieft taucht er ein in das New York der 50er-Jahre und die Welt der weißen Bohemiens aus Greenwich Village. Hier ist Rufus mit Leona zusammen und Vivaldo liebt Ida – Ida Vivaldo wahrscheinlich auch, obwohl sie eine Affäre mit Steve hat, dem Produzenten von Richard, der sogleich eifersüchtig auf Vivaldo ist. Dessen Frau Cass schläft nicht mit ihm, sondern mit Eric, der einst ein kurze Affäre mit Rufus hatte und den Franzosen Yves liebt und so weiter. Dieser ganze brüchige Beziehungsreigen findet immerhin schon einige Jahre vor der sogenannten freien Liebe von 1968 statt und hat sofort den Nerv des Publikums getroffen. Die ganze Geschichte entzündet sich an dem Selbstmord von Rufus Scoot, einem begnadeten Jazzmusiker aus Harlem. Alle handelnden Personen kannten ihn gut und leben nun mit dem Gefühl der Schuld, ihm nicht genug zur Seite gestanden zu haben. Und auch hier geht es – wie in allen Werken des Autors – um Polizeigewalt, die Weiße und Schwarze unterschiedlich zu spüren bekommen und wahrnehmen. So steht mitten im Roman der Satz „Denn alle Polizisten waren schlau genug zu wissen, für wen sie arbeiten, und nirgendwo auf der Welt arbeiten sie für die Machtlosen.“ Schon als Zehnjähriger hatte Baldwin auf den Straßen Harlems seine eigene Erfahrung mit Polizeigewalt gemacht.

Baldwins Essays: Scharfsinnige Analysen, die bis heute relevant sind

Zur Baldwin-Reihe gehören weiterhin zwei Essaybände von ursprünglich 1955 „Notes of a Native Son – Von einem Sohn diese Landes“ und von 1963 The Fire Next Time –Nach der Flut das Feuer die in ihren scharfsinnigen Analysen – leider – bis heute wenig an Aktualität verloren haben und deren Lektüre ich unbedingt empfehlen kann.

Der Roman „If Beal Street Could Talk Beale Street Blues“ erschien 1974 im Original und wurde 2018 verfilmt und auf Deutsch neu übersetzt. Er widmet sich auf berührende Weise der tragischen Liebesgeschichte des jungen Paares Tish und Fonny, die vergeblich gegen die Willkür der weißen Justiz kämpfen.

Neuauflagen und Verfilmungen: Baldwins Werk in der modernen Zeit

Zwei Neuerscheinungen in diesem Jahr bilden hoffentlich noch nicht das Ende der Baldwin-Reihe bei dtv, die sich unter anderem dadurch auszeichnet, dass sie durch engagierte Vor- bzw. Nachworte verschiedener Experten das jeweilige Werk Baldwins beleuchten und einordnen lässt. Unter dem Titel „Kein Name bleibt ihm weit und breit“ sind Texte von Baldwin über seine Erfahrungen als Schriftsteller und Aktivist und zugleich als eine hervorragende Chronik der 60er- und 70er-Jahre erschienen. Erstmals unter dem Titel „No Name in the Street“ 1972 veröffentlicht, sind diese Texte zutiefst persönlich und absolut politisch und haben Erkenntniswert bis in die Gegenwart.

Bereits vier Jahre vorher war der nun unter dem Titel „Wie lange, sag mir, ist der Zug schon fort“ veröffentlichte Roman „Tell Me How Long the Train’s Been Gone“ erschienen. Hierin erzählt der Autor die Lebensgeschichte des berühmten Schauspielers Leo Proudhammer, der sich aus einfachen Familienverhältnissen aus Harlem kommend zum Star emporarbeitet. Wieder geht es auf einfühlsame und zugleich spannende Weise um die Fragen nach Liebe und Identität und auch hier sind viele autobiographische Verbindungen zum Autor zu spüren.

Allen Büchern der dtv-Reihe gemeinsam ist die geniale Neuübersetzung von Miriam Mandelkow, die sich dabei intensiv der Schwierigkeit annimmt, die englischen Originalbegriffe wie „Negro, Black, Colored, Afroamerican“ im richtigen Kontext in die entsprechenden deutschen Begriffe zu übertragen. Schließlich steht Baldwins gesamtes Werk unter seinem Satz „I am not a nigger. I am an man.“

Eine Leseempfehlung für heute: Warum James Baldwin immer noch wichtig ist

Die Frage, was uns Baldwin heute noch alles sagen kann, hat der Literaturjournalist René Aguigah in seinem kürzlich erschienen Buch „James Baldwin. Der Zeuge – ein Porträt“ wie folgt beantwortet: „Wer heute über Identitätspolitik debattiert oder über politisierende Kunst, wer sehen will, wie Rassismus sowohl im Staatsapparat als auch in der Intimbeziehung wirkt, wer keine Scheu hat zu sehen wie Selbstwertgefühle von Rassifizierten implodieren können und wie das Regime der weißen Vorherrschaft noch in den selbstverständlichsten Gesten einer Mehrheitsgesellschaft steckt, taucht so schnell nicht wieder aus der Lektüre auf.“ Anschaulich – auch durch Fotos – folgt Aguigah Baldwins Leben und Werk und geht der Frage nach, wie der Aktivist und der Schriftsteller sich unterscheiden und wo sie einen gemeinsamen Blickwinkel haben können. Dazu hat er tief in Baldwin Nachlass geschaut und zitiert unter anderem auch aus Reden, Interviews und Filmmaterial. Er kommt zu dem Schluss, dass James Baldwin sich selber als „Zeuge“ sieht. „Die Arbeit als Schriftsteller und das Engagement als Aktivist – zwei Enden auf dem Spektrum dessen, was es heißt, Zeugnis abzulegen.“

Somit bietet der hundertste Geburtstag die reichhaltige Möglichkeit James Baldwin auf vielen Wegen neu- oder wiederzuentdecken – eine Reise, die ich von ganzem Herzen empfehlen kann. 

Am 28. August und 24.September werden »Ein James-Baldwin-Abend« mit Ijoma Mangold und René Aguigah zuerst im Literaturhaus Hamburg und dann in München stattfinden.

Bei Verwendung des Textes bitte Quelle angeben bzw. verlinken.

dtv-Reihe: James Baldwin – in der Reihenfolge des Erscheinens

1. Von dieser Welt, Roman, aus dem amerik. Englisch von Miriam Mandelkow (2018)

2. Beale Street Blues, Roman, aus dem amerik. Englisch von Miriam Mandelkow (2018)

3. Nach der Flut das Feuer, Essays, aus dem amerik. Englisch von Miriam Mandelkow (2020)

4. Giovannis Zimmer, Roman, aus dem amerik. Englisch von Miriam Mandelkow (2020)

5. Ein anderes Land, Roman, aus dem amerik. Englisch von Miriam Mandelkow (2021)

6., Von einem Sohn dieses Landes, Essays, aus dem amerik. Englisch von Miriam Mandelkow (2022)

7. Kein Name bleibt ihm weit und breit, aus dem amerik. Englisch von Miriam Mandelkow (2024)

8. Wie lange, sag mir, ist der Zug schon fort, Roman, aus dem amerik. Englisch von Miriam Mandelkow, (2024)

René Aguigah, James Baldwin, Der Zeuge. Ein Porträt,  C.H. Beck Verlag München, 2024

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