Mit seiner Lulu schuf Frank Wedekind vor dem Ersten Weltkrieg die femme fatale schlechthin. Bei den Salzburger Festspielen versuchte sich die griechische Filmregisseurin Athina Rachel Tsangari an der »Monstretragödie«.
Stephan Reimertz berichtet von der Pernerinsel in Hallein
Er war ein Kerl. Frank Wedekind stammte aus einer illustren adeligen norddeutschen Familie. Sein Vater wanderte nach Amerika aus und machte dort ein Vermögen, Franks Schwester Frida war eine berühmte Opernsängerin, er selbst wuchs auf einem Schloss in der Schweiz auf, studierte in Lausanne und München, ging zum Zirkus, forderte die wilhelminische Gesellschaft mit seinen Liedern und Stücken heraus und landete für seine Provokationen im Gefängnis. Er liebte die Frauen und war ein Pionier der sozialen und sexuellen Aufklärung.
Der Dichter liebte die Erotik und schuf mit seiner Lulu ein Urweib des deutschen Theaters. Frank Wedekind fasste seine Dramen Erdgeist (1895) und Die Büchse der Pandora (1902), die der faszinierenden Dame gewidmet sind, im Jahre 1913 zu dem Theaterstück Lulu zusammen, unter welchem Namen die meisten der zahlreichen Film-, Theater- und Opernbearbeitungen firmieren sollten. Bei den Salzburger Festspielen inszenierte die theaterfremde griechische Filmregisseurin Athina Rachel Tsangari den deutschen Klassiker; wenn man ihre Performance denn eine Inszenierung nennen will. Die letzte Schauspielpremiere der diesjährigen Salzburger Festspiele fand auf der Pernerinsel in Hallein vor den Toren Salzburgs statt. Das Publikum quittierte die durch und durch misslungene Produktion mit berechtigten Buhrufen. Man fragt sich, wer hinter den Kulissen die Verantwortung dafür trägt, dass eine vollkommen ungeeignete Regisseurin, die noch nie ein Theaterstück inszeniert hat, für diesen in der Sozialgeschichte so entscheidenden und in der Theatergeschichte so wegweisenden Klassiker engagiert wurde.
Vergebliches Warten auf eine Deutung der Geschlechterbeziehung
Tsangari hat den Text von Wedekind, wie nicht anders möglich, stark gekürzt. Warum sie die Titelrolle der Lulu gleich dreifach besetzte – Anna Drexler, Isolda Dychauk, Ariane Labed – bleibt ihr Geheimnis. Etwas poetisch oder dramaturgisch Zwingendes konnte man in dieser Idee jedenfalls nicht entdecken. Bei der Premiere verließ das Publikum fluchtartig den Raum z. T. schon während der Vorstellung, die im letzten Drittel auch noch in der Qualität stark abfällt. Leidtragende sind wie so oft die Taxichauffeure, welche die Besucher nach Salzburg zurückbringen und sich die Klagen über einen weiteren Reinfall anhören müssen. Zeit ist relativ, sagte Albert Einstein. Fünf Minuten, die man auf einer heißen Herdplatte sitzt, kommen einem viel länger vor als zwei Stunden eines Gesprächs mit einem schönen Mädchen. Die zwei Stunden, die diese Aufführung dauert – ohne Pause natürlich, denn wer würde danach wiederkommen? – erschienen einem jedenfalls unendlich lang.
In Lulu geht es um die femme fatale, die mit ihrem verführerischen, dabei ambivalenten Auftritt Männer der unterschiedlichsten Herkunft verrückt macht und sogar eine leidensfähige Frau in ihren Bann zieht. Es wäre spannend zu zeigen, wie sich diese aus der wilhelminischen Epoche stammende Projektion von Weiblichkeit in der Gesellschaft von heute darstellt. In unserer Zeit sind Frauen wie Männer in ihrem Rollenverständnis verunsichert und wären dankbar für eine Theateraufführung, welche die Mann-Frau-Beziehung greifbar deutet. Doch ein solch komplexes Thema bedürfte eines halbwegs begabten Regisseurs. Es ist beruflicher Missbrauch, begabte Schauspieler – allen voran Fritzi Haberland als Gräfin Geschwitz und Christian Friedel als Alwa – für ein dilettantisches Unterfangen wie in Salzburg heranzuziehen.
Theaterfremde Dilettanten
Tsangari mag eine begabte Filmregisseurin sein, aber die Salzburger Festspiele sind kein Filmfestival. Auch Bühnenbildner Florian Lösche vermochte keine Atmosphäre zu schaffen. Große graue Kugeln, die als Projektionsfläche dienen – aufgepasst: Symbol! – schweben auf und ab im ausgekachelten Bühnenraum. Schon seit den siebziger Jahren war abzusehen, dass sich die Vernichtung der Bildung bald in Kunst und Wissenschaft zeigen würde.
Einen theaterfremden Filmregisseur bei dem entscheidenden europäischen Kulturfestival mit einem deutschen Theaterklassiker zu betrauen ist etwa so, als würde man einen Tierarzt an einem prominenten Künstler oder Politiker eine komplizierte Operation ausführen lassen. Kein Wunder, wenn es dann heißt: Operation misslungen, Patient tot. Verantwortlich sind die Organisatoren hinter den Kulissen, die diese völlig unbegabte Dame aus Griechenland nach Salzburg geholt haben. Die Kartenpreise sollten zurückerstattet werden.
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