In seiner Prinzipienreiterei ist er ebenso ein echter Ostpreuße wie in seinem delikaten Humor und seinem sicheren Geschmack: Prof. Dr. Immanuel Kant. Aber wie fühlt sich der Erkenntnistheoretiker, Ethiker und Universalist im heutigen Kaliningrad? Und was würde ihn glücklich machen? Die unbedarften Fragen stellte Stephan Reimertz
Feuilletonscout: Herr Professor Kant, Sie haben das Reiten von Prinzipien zur Hohen Schule ausgebildet. Daher zum Eingang des Gesprächs diese Frage: Wenn Sie heute durch Deutschland gehen und Fußgänger bei Rot vor der Ampel stehen sehen, auch wenn kein Auto kommt, selbst den Bankräuber auf der Flucht: Sehen Sie in solcher fußgängerischen Verhaltung einen Sieg Ihres Kategorischen Imperativs?
Immanuel Kant: Mitnichten. Wie Sie wissen, mein lieber Reimertz, fordere ich in dem von Ihnen erwähnten Prinzip, man solle nur derjenigen Maxime folgen, durch die man zugleich wollen kann, dass sie allgemeines Gesetz werde. Wenn jemand also vor einer roten Fußgängerampel stehenbleibt, auch wenn weit und breit kein Auto zu sehen ist, muss ich darin eine Umkehrung, ja Pervertierung des Kategorischen Imperativs erkennen. Denn es ist doch offensichtlicher Unsinn und zeigt einen Mangel an Common Sense. Eine solche Handlungsweise kündigt ja die unbedingte Bereitschaft an, jene Gewalt, die man ohne Not sich selbst antut, bei der nächsten Gelegenheit, schon aus Revanche, anderen anzutun.
Feuilletonscout: Wenn hier das scheinbar ethische Handeln allein Ergebnis einer automatischen Ampelschaltung, also eine Schein- und Antiethik ist, wie können wir dann die verwirrte Schafherde Mensch auf ihrem Nachhauseweg ins Gatter der Vernunft führen?
Immanuel Kant: Sapere aude! Lerne, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! Das ist nicht einmal von mir; schon Horaz hat uns alle aufgefordert, den Mut der Vernunft zusammenzunehmen und anzufangen. Also: Löse dich aus deiner selbstverschuldeten Unmündigkeit und überquere die Straße!
Feuilletonscout: Wie wird diese Frage der Straßenüberquerung in Ihrer Heimatstadt Königsberg gehandhabt?
Immanuel Kant: Da Deutschland nach 1990, wo durchaus eine Chance dazu bestand, versäumt hat, den Russen Ostpreußen abzukaufen, gehen hier die Leute über die Straße, wann immer diese frei ist. Denn meine Heimatstadt ist russisch. Deswegen bleibe ich auch hier und reise nirgends hin. In Kaliningrad herrscht die Vernunft.
Feuilletonscout: Was wäre für Sie der Traum vom Glück?
Immanuel Kant: Ich würde gern bei der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften arbeiten. Sie behauptet, sie gäbe die Kant-Gesamtausgabe heraus. Da diese aber längst erschienen ist, hätte ich dort nichts zu tun, könnte den ganzen Tag Schach spielen und Königsberger Marzipan essen.
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