Ernst Jüngers Dichtung Auf den Marmorklippen erscheint literarisch als Nebenwerk zwischen den surrealistischen Prosaskizzen Das abenteuerliche Herz und dem epochalen Tagebuch Strahlungen. Die Zeitgenossen lasen die Parabel vor allem als Angriff auf den Nationalsozialismus. Der Autor selbst sah seine Erzählung als Metapher für jeglichen Totalitarismus. Eine neue Ausgabe dokumentiert Entstehung und Wirkungsgeschichte des vielgelesenen Klassikers. Von Stephan Reimertz
In den siebziger Jahren tastete ich mich als Schüler durch den Waldgang und auf die Marmorklippen. Ernst Jünger hatte mit diesen beiden Erzählungen Bilder des totalen Staates, einer totalisierten Welt geschaffen und zugleich Handlungsanweisungen, wie man sich ihnen entziehen und überleben, ja wie man über den Totalitarismus triumphieren konnte. Ich kann nicht behaupten, dass mich die beiden Bücher angesprochen hätten. Ihre Sprache schien blass.
Geträumter Stil
Die Marmorklippen ließen mich kalt. Der Autor schlug einen elegischen Ton an, der an Vergil erinnert, wies sich mit einem der bekanntesten Dante-Zitate als Literaturkenner aus und mündete sodann in eine symbolisch überfrachtete Erzählung, die er prätentiös vortrug. Der Stil erinnerte mich an das schlimmste, was ich mir damals vorstellen konnte: Hermann Hesse. Gelegentlich fiel Jünger gar in gebundene Rede und flocht Anklänge an Hexameter ein. War das derselbe Autor, der In Stahlgewittern, Das abenteuerliche Herz, und Afrikanische Spiele geschrieben hatte? Ich musste erst lernen, dass jeder Autor, jeder Künstler das Recht auf Pausen zwischen großen Werken hat.
Talfahrt zwischen literarischen Gipfeln
Opera minora zwischen Meisterwerken haben die Funktion, dem Autor zu ermöglichen, einen Gang zurückzuschalten. Sie sind Reflexion, Depression, Digestion. Es gibt dergleichen im Werk beinah jedes Künstlers, und es ist fahrlässig, ihn daran zu messen. Das kleinere oder weniger bedeutende Opus ist das Tal, das von einem Gipfel zum andern führt. Mich vermochte als Schüler jedoch weder die Traumlandschaft der »Großen Marina« zu fesseln, noch das durch die Marmorklippen nach Norden hin abgetrennte Hirtenvolk, noch die beiden Brüder und ihre botanischen Studien, noch der Oberförster mit seinem jovial-gewalttätigen Charisma.
Die definitive Ausgabe
Eine kleine Erzählung mit großer Rezeptionsgeschichte; sie fand nun ihre angemessene Darbietung in der Neuedition im Klett-Cotta Verlag. Herausgeber ist Helmut Kiesel, der die maßgebliche Biographie von Ernst Jünger vorgelegt, die Tagebücher Jüngers aus dem Ersten Weltkrieg herausgegeben, und der besonders mit seiner Ausgabe der Stahlgewitter, welche die Unterschiede der verschiedenen Fassungen des Weltkriegsbuchs voneinander abhebt, die Rezeption Ernst Jüngers auf ein neues Niveau gehoben hat. Auch den Marmorklippen verschafft Kiesel mit seiner Ausgabe endlich die angemessene Erscheinungsform. Neben dem Text der Novelle und Jüngers Adnoten legt Kiesel zahlreiche Materialien zu Entstehung, Rezeption und Debatte vor. In der Tat zeigt sich, dass die Marmorklippen vor allem ein Rezeptionsphänomen sind, ein interessantes Asservat aus der Werkstatt eines unermüdlich tätigen Meisters, ein Kunstwerk, dessen Geschichte dokumentiert werden muss, will man das Gesamtwerk des Autors verstehen.
Ein historisches Phänomen
Mit den Marmorklippen schuf Ernst Jünger den Klassiker jeglichen Widerstands. In der neuen Ausgabe schlüsselt Helmut Kiesel Textüberlieferung und Varianten auf, gibt Sach- und Worterklärungen, versammelt des Autors Äußerungen über sein Werk und bietet als Schwerpunkt des fast vierhundert Seiten starken Bandes Rezensionen aus der Zeit des »Dritten Reiches«. Lehrreich ist auch der Bildteil; Jünger-Porträts von A. Paul Weber und Rudolf Schlichter sind ebenso zu sehen wie Titelblätter des Buches und Photos von Jüngers Wohnsitzen. Es wird deutlich, dass die aufregende Geschichte weniger die ist, welche die Marmorklippen erzählen, sondern jene des Buches und seiner Veröffentlichung. Der Roman des Romans ist spannender als der Roman selbst.
Autor provoziert Nazis
Wir sehen zu unserem Erstaunen, dass das Niveau der Buchrezensionen im »Dritten Reich« höher war als heute, selbst wenn es sich bei den Autoren um Nationalsozialisten handelte. Nazi-Rezensenten schrieben in der Regel weniger denunziatorisch als mancher Schmock unserer Zeit. Besonders interessant sind auch die Besprechungen aus dem Ausland; diese tendierten dazu, die Marmorklippen zuerst als Widerstandsbuch zu verstehen. Nationalsozialisten konnten diese Interpretation nicht offen äußern; sie hätten damit zugegeben, dass ihr Staat ein Unrechtsstaat und dem Untergang geweiht war. Aus demselben Grund fiel es ihnen auch schwer, den Autor wegen der Marmorklippen an den Pranger zu stellen oder zu verhaften, obgleich einzelne Nazis dies versuchten.
Die Reichsschrifttumskammer von heute
Wie die Frontlinie im Ersten Weltkrieg eine fatale Anziehungskraft auf Ernst Jünger ausübte, so reizte ihn die Situation im »Dritten Reich« immer wieder, mit Hitler um seinen Kopf zu spielen; etwa so, wie Dimitrij Schokstakowitsch seinen Diktator Stalin wiederholt provozierte, als wolle er sehen, wie weit er gehen könne. Eine gewisse Todeskoketterie, Jünger nie ganz fremd, führte in den Marmorklippen zu einer ungewöhnlichen Rezeptionsgeschichte. Man kann den Autor und sein Werk nicht recht greifen, und das hat seinen Grund. Doch was im »Dritten Reich« Überlebensstrategie war, brachte seit 1945 die Leser in Interpretationsnot. Was immer man nicht mehr verstand, warf man nun dem Autor vor. Die Jünger-Rezeption ist durch die Verwechslung von Ursache und Wirkung gekennzeichnet. Die nationalsozialistische Jünger-Feindschaft fand ihre Fortsetzung nach 1945 bei einer selbstermächtigten Reichsschrifttumskammer, deren Tonfall noch aggressiver war als bei jener im »Dritten Reich«. Viel Neid auf einen Autor war darin gespeichert, welcher der Tyrannis zu widersprechen gewagt hatte, als jene sich wegduckten.
Spiel um den Kopf
Besonders interessant ist, dass der Herausgeber Helmut Kiesel in der neuen Ausgabe auch Georg Friedrich Jüngers Langgedicht Der Mohn abdruckt, welches in zahlreichen Abschriften im In- und Ausland kursierte und in unmittelbarem Zusammenhang mit den Marmorklippen des Bruders Ernst steht. Thomas Mann las Ende November 1936 in Küsnacht seiner Familie das Gedicht vor, das er als »von fabelhafter Aggressivität gegen die Machthaber« erfüllt empfand. Das Gedicht von Ernst Jüngers Bruder freilich besitzt auch heute höchste Aktualität. Der Mohn steht für die leere Rhetorik, die uns einlullen und betäuben soll. Gerade der antikische Ton erlaubt direkte Aussagen:
Schärfer als Feuer und Stahl kränkt uns das Niedere doch.
[…]
Nimmer duld ich gelassene. Schweigsame ähneln Verrätern …
Ernst Jünger
Auf den Marmorklippen
Klett-Cotta, Stuttgart 2017
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