Adlerauge für Details, Lebensweisheiten am laufenden Band, Satire altösterreichischer Schule – ein furioser neuen Roman aus Wien: Hippocampus von Gertraud Klemm. Rezension von Stephan Reimertz.
Die Frau Klemm kenne ich nicht. Das Gesicht von der Frau Klemm wirkt klassisch auf dem Buchumschlag, aber auch die Spottdrossel nistet in ihren Augenwinkeln. Der Verlag Kremayr & Scheriau befindet sich in Wien. Haben wie einen Hauch von Schmäh zu erwarten? Ihr Buch Hippocampus ist sehr hilfreich, denn wer wissen will, was Frauen so denken, sollte lesen, was sie geschrieben haben. »Frauen mögen Dienstleistungen. Da manifestiert sich die Zuneigung, da wird sie greifbar.« Das schreibt sie uns ins Poesiealbum und zugleich in ihren neuen Roman. Wir denken natürlich gleich an Dienstleistungen, die uns selbst viel Freude machen; hier geht es aber um einen Typen, der Frühstück bereitet.
Eine komische Könnerin
Man merkt gleich, Frau Klemm hat die Komik im kleinen Finger, außerdem kennt sie zahllose Alltagsdetails, die sonst nur Hausfrauen bekannt sind, z. B. was man in Geschäften und Bäckereien alles kaufen kann. Ein weibliches Schreiben gibt es keins, aber wenn es eins gäbe, dann offenbarte es sich in Einkaufslisten. Ach so, ich wollte noch sagen, das Buch ist sehr schön und aufwändig ausgestattet; gemusterter Seitenschnitt, seepferdchenverzierter Buchdeckel, wohlriechendes Papier. Der Verlag hat sich ebensoviel Mühe bei der Ausstattung gegeben wie Frau Klemm beim Schreiben. Die Klemm bleibt in Detailarbeit nicht stecken. Ihre Lebensklugheit und -erfahrung durchzieht komisch und ironisch das ganze 379-seitige Elaborat: »Wenn Ehepaare miteinander altern, wachsen die Frauen über sich hinaus und über ihre Zuständigkeiten. Dann wachsen sie um die Männer herum und ersticken sie mit ihrer Fürsorglichkeit, damit sie im Alter noch jemanden haben, den sie dank günstiger Seniorentickets durch die Welt schleifen können.« All diese feinen kleinen Skurrilitäten hat Klemm mit manieristischer Meisterschaft aufgereiht. Satirisch? Ja, aber sie schreibt zugleich in jedem Moment poetisch und imaginativ.
Literarisch hochkarätiges Amüsement
Die Autorin besitzt den stechenden Blick eines Raubvogels, dem sich Kilometer unter ihm eine Maus mit jedem Härchen abzeichnet. Höchstens Marlene Streeruwitz schießt solchen Wortwitz ab, aber Klemm spart sich deren Bitternis und führt eine in der deutschen Literatur seltene Leichtigkeit vor. Unter dem Komischen wächst bei ihr das Dämonische, Unausweichliche, das ist ganz schön kubinesk und zieht uns in ein literarisches Gestrüpp voller Dornen hinein, aus dem wir uns nicht herauswinden können und auch gar nicht wollen. »Wie kastrierte Rüden, die nicht mehr raufen und aufreiten, dafür aber umso mehr fressen wollen, so kommen ihm die meisten Jungväter vor.« Solche Pfeile schießt sie auf jeder Seite ab, dieser satirische Stil aus den literarischen Wiener Werkstätten macht das Buch zu einem hochkarätigen Pläsier. Aber worum geht es in ihrer Geistesschöpfung eigentlich?
Alte Frauen im Literaturbetrieb
In der Öffentlichkeit ist die Frau heute das, was in der Sowjetunion der Arbeiter, im Dritten Reich der Arier war: die heilige Kuh. Je schlechter die Stellung der Frau im Alltag, desto geheiligter die Kuh in der Kultur. In Österreich entspricht das Geschlechterverhältnis heute dem in der Bundesrepublik des Jahres 1950. Zugleich wird in den österreichischen Medien ein Femodada abgefackelt, das die ganze Emanzipation in Kabarett verwandelt. Diese Situation spießt Gertraud Klemm in ihrem neuen Roman auf. Die fiktive Helene Schulze, zu Lebzeiten Autorin der feministischen Avantgarde, soll postum geehrt werden. Protagonistin des Romans ist Elvira Katzenschlager, die alles tut, der Verstorbenen den ihr gebührenden Ruhm zu verschaffen. Dabei stolpert Elvira durch den Literaturbetrieb von heute. Der Roman suggeriert, Frauen seien in demselben benachteiligt. Ich bin ja leider nur ein Typ, aber mir will es doch scheinen, als handele es sich bei der Literaturszene um ein Damenkränzchen. Damen sind diejenigen, welche die Romane kaufen, darum verlegen die Lektorinnen lieber gleich Romane von Damen für Damen. Früher musste man DDR-Bürger oder Österreicher sein, um veröffentlicht zu werden, heute Dame.
Am Abgrund linksliberaler Systemschriftsteller
Vom Literaturbetrieb hört man wenig in der Öffentlichkeit, wenn man sich nicht dafür interessiert. Für Klemms satirischen Blick gibt er allerdings ein treffliches Terrain ab. »Heute ist der Literaturbetrieb ein Kindergarten für Schwererziehbare: Jeder darf alles.
Gertraud Klemms Hippocampus beschreibt einen furiosen Ritt durch die Welt der Kulturspießer und Systemschriftsteller. Ihr Humor beißt kräftig zu und knüpft an die Kritik an einem korrupten und dilettantischen Literaturbetrieb an. Ihr rasendes, ratterndes Hirn trägt eine banale Story in flackernden Bildern vor. Als sardonisch-saturierte Großstädterin schreckt sie auch vor der seit zweihundert Jahren im Schwange befindlichen Ästhetik des Hässlichen nicht zurück. Hippocampus ist ein grandioser Hirnzirkus.
Gertraud Klemm
Hippocampus
Kremayr & Scheriau, Wien 2019
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Coverabbildung © Kremayr & Schierau
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