Rezension von Ingobert Waltenberger.
Nehmen wir das Wort Winter einmal wörtlich: Wir alle haben verschiedene Empfindungen in Verbindung mit jener in unseren geographischen Breiten kalten Jahreszeit, die romantisch mit Schneefall und knisternden Holzscheiten am Kamin assoziiert wird. Der Winter bringt aber auch viel ungemütliches Dunkel und Nacht, Eisesglätte und schneidenden Wind. Es gibt nebelverhangene Tage und kriechende Kälte, die uns zu schaffen machen. Das Leben verlagert sich von der Straße in geschlossene Räume. Es ist Zeit für die Erkundung innerer Welten, für Kopfreisen, aber auch für namenlose Ängste und existenzielle Erprobungen.
Versuchen wir uns vorzustellen, wie das wohl so war im Herbst 1827, als Schubert ein Jahr vor seinem Tod diesen für mich schönsten und ergreifendsten aller Liedzyklen nach Texten des Dessauer Dichters Wilhelm Müller schrieb. Der 30-jährige Komponist hatte keine Zentralheizung und elektrisches Licht, er litt unter Syphilis, Medizin und Hygiene waren in den Kinderschuhen bzw. im Vergleich zum Heute wohl der Steinzeit näher. All das hören wir nicht in seiner Musik, aber wohl den Schrei eines sensibel im Innersten alles andere als stummen Menschen mit ungestillten Sehnsüchten nach Liebe und Geborgenheit am Ende seines Lebens. Der Zyklus offenbart auch von Müllers eigenem Erleben als Soldat. Müller schwelgt in seinen Texten in allen Arten von verklärten und marternden Erinnerungen an eine unglückliche Liebe, die er als Soldat während der Napoleonischen Befreiungskriege durchlebte.
Das Voyager Quartet, wir erinnern uns an das gleichnamige Raumfahrtprogramm der NASA in den Siebziger Jahren, zeichnet nun auf ganz eigene Weise diese Winterreise in einer rein instrumentalen Version für Streichquartett nach. Bratschist Andreas Höricht hat 12 Lieder aus dem 24-teiligen Zyklus gewählt, für Streichquartett arrangiert und elf Intermezzi dazu komponiert. Dabei gelingen nicht nur ganz und gar sanglich phrasierte Melodielinien, sondern Höricht macht den Bezug Schuberts zur Neuen Wiener Schule und zeitgenössischen Klangvorstellungen überdeutlich. Vergessen wir nicht, wie ablehnend die Reaktion seiner Freunde war, als Schubert ihnen zum ersten Mal am Klavier den Zyklus präsentierte und diesen auch selbst sang. Gefallen hat dem Dichter Franz von Schober nur der „Lindenbaum“. Diese Modernität, der für damalige Verhältnisse unbarmherzige Blick und die Reduktion der musikalischen Mittel erfährt nun in der Interpretation des Voyager Quartets eine ganz eigene Note. Ein Sezierraum der Seele, hell erleuchtet.
Auf der einen Seite spinnen die Streicher spielerisch leicht ausgedehnte Phrasen und ermöglichen so einen einzigartigen Hörgenuss, auf der anderen Seite gehen die Emotionen weniger als Klage eines konkret individuellen Einzelschicksals unter die Haut. Wir erleben 12 bekannte Lieder der „Winterreise“ (Gute Nacht, Gefrorne Tränen, Der Lindenbaum, Auf dem Flusse, Irrlicht, Frühlingstraum, Einsamkeit, Der Wegweiser, Das Wirtshaus, Mut, Die Nebensonnen und Der Leiermann) klar strukturiert und kammermusikalisch-symphonischer als in der Originalversion. Unsere musikalische Reise schlägt neue Finten und Volten, sie hebt den Blick zum Firmament. Zwar müssen wir Gott sei dank nicht den Weg der Voyager zurückgelegen, die aktuell 22,13 Mrd. Kilometer von der Erde entfernt ist und jede Sekunde mit 61.000 km/h weiter ins Weltall vordringt.
Wir dürfen uns aber aus einer völlig anderen Perspektive in die poetisch abstrakten Bilder versenken, deren aufwühlende Kraft mit eigenem Sinn füllen, Bekanntes wieder als fremd empfinden.
Das fein aufeinander abgestimmte Miteinander des Voyager Quartets fasziniert mit groß-rundem Ton. Der Hörer darf in dieser Schönheit wie in Eselsmilch baden und dennoch katapultiert uns die teils dissonante Gegenrede der Intermezzi in ganz neue Räume und Weiten. Das allgemein Gültige und ästhetisch Überwältigende von Schuberts Musik, hier wird‘s zum Ereignis. Dieser mit schwarzer Tinte in Klang geritzte Kreuzgang eines vom Schicksal Beladenen in politisch schweren Zeiten ist heute gültiger denn je. Dank der expressiven, überwältigend intensiven Steuerung der Voyager-Besatzung (Nico Christians Violine, Maria Krebs Violine, Andreas Höricht Viola, Klaus Kämper Cello) schenkt das Album nichts weniger als eine Liebeserklärung an die Musik und ihrer möglichen Projektionen.
Präsentationskonzert am 27. März 2020 in Berlin, Piano Salon Christophori
Schubert: Winterreise for String Quartet
The Voyager Quartet
Nico Christians/Maria Krebs: violins ·
Andreas Höricht: viola ·
Klaus Kämper: violoncello
Solo Musica, 2020
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