Rezension von Stefan Pieper.
Die Kölner Saxofonistin Angelika Niescier bemüht die höhere Mathematik für eine Art Formel für das Moers-Festival: Musik mal Moers geteilt durch Publikum plus Proben mal noch mehr Musik plus Zeitschleifen mal drinnen und draußen geteilt durch Tag und Nacht oder so ähnlich…. Auch wenn die meisten höheren Kulturwesen nicht unbedingt Mathefreaks sind, so werden doch hier die Variablen jener „Gesamtenergie“ benannt, die vielleicht auch mal eine Revolution anzetteln könnte – aber zumindest seit 50 Jahren in einer Provinzstadt am Niederrhein ein Festival wie kein anderes hervor bringt.
Der eigentliche „runde“ Geburtstag des Moers-Festivals steht im nächsten Jahr an – für die Zeit bis dahin liegt ein äußerst lesenswertes und optisch attraktives Buch über „Moers“ als Lebensgefühl vor. Jenseits aller spannenden Inhalte ist das 230 Seiten starke Werk ein Plädoyer für das Buch in gedruckter, haptischer Form. Die etwas exotisch anmutende, aber äußerst solide Seitenbindung entspricht einer japanischen Buchbinder-Tradition. Das wirkt wie eine Reminiszenz an die langjährige, den Globus umspannende Connection des Festivals mit dem Land der aufgehenden Sonne. Mit Liebe wurde das Innencover per Zeichenstift gestaltet. Die Locations des Festivals bilden ein Muster: Das große Zelt, die Holzbühne im Schlosspark, die karge Sachlichkeit der Eissporthalle, die nüchterne Funktionalität der heutigen, modernen Festivalhalle.
Über 50 verschiedene Stimmen, vor allem Musikerinnen und Musiker, Festivalbesucher und sonstwie vom Moers-Virus-Befallene kommen zwischen den Buchdeckeln zu Wort, um jeweils eine persönliche Verbindung kurz und prägnant zu beschreiben. Es geht um die Kraft, welche das Moers-Festival der eigenen Sozialisation als Mensch oder als Musiker gab. „Man musste hier einfach rein, weil da Töne zu hören waren, die völlig fremd klingen.“ sagt jemand im zarten Alter von 17, der gewillt ist, eine Welt jenseit des Bretterzauns, welches in der Gründerzeit das noch junge Festival von der Welt der „Normalen“ abgrenzte, zu erkunden. Beachtlich war die große – auch internationale – Resonanz, um im Frühjahr dieses Jahres zu diesem Projekt beizutragen: Zu Wort kommt Marshall Allen vom legendären Sun Ra Arkestra. Er beschreibt, wie er jenen, später immer wieder mystisch verklärten Moment erlebte, als beim Auftritt von Sun Ra plötzlich der Regen aufhörte. Der Freejazz-Saxofonist und Improvisationsmusiker Anthony Braxton, der sich in verschiedenen Zeitaltern in Moers künstlerisch einmischte, beschreibt das, was Moers so wichtig macht, eben dieses geteilte Gefühl von Humanität und Hoffnung. Peter Brötzmann, das zeitlose Wuppertaler Urgestein, hat für die soziale Erfahrung eines solchen Festivals viel lakonischere Worte übrig: „Diese schräg aussehenden Typen, die da auftraten, machten am Ende auch nichts anderes als sie selbst. Sie tranken Bier und aßen Pommes. Und manchmal machten sie einen höllischen Lärm.“ Günther Baby Sommer lobt Moers als treibende Kraft, die in Zeiten des ausgehenden Kalten Krieges die freie Musikkultur zusammenwachsen ließ. So geschehen, als der unermüdlich für die Idee seines Festivals weiter kämpfende Burkhard Hennen zum ersten Mal Bands aus der DDR, also auch Günther Baby Sommer selbst, einlud – damals ein organisatorisches Abenteuer.
„Kulturpolitisches Diskursfutter“
Viele Beiträge in diesem neuen Buch liefern solides kulturpolitisches Diskursfutter: Michael Schröer stellt den hohen Wert jener Aufbruchsstimmung Anfang der 70er bis Mitte der 80er als fruchtbaren Nährboden heraus. Immer wieder kommt dabei eine Kern-Qualität zum Ausdruck. Fürs Publikum: Hier etwas erleben, mit dem ich vorher nicht rechnen konnte. Aus Musikerperspektive: Auf Konzerten und Sessions etwas hervor bringen, womit niemand vorher rechnen konnte. Wer in Moers früh aufsteht und die Moers-Sessions besucht, früher Vormittagsprojekte genannt, weiß, wovon die Rede ist…
Bei den heutigen Festivalausgaben unter Tim Isforts Leitung sind kulturpolitische „Discussions“ ein wesentlicher Bestandteil im Programm. Im Jahr 2020 lieferte der Soziologe und Musikunternehmer Berthold Seliger einen aufschlussreichen Vortag über die Mechanismen der Unterhaltungs- und Event-Industrie, deren kommerzielle Mechanismen ja letztlich alle freie Kunst, die sich den Mainstream widersetzt, in ihre prekäre Randexistenzen abdrängt. Seliger, der selbst aus der Branche kommt, muss es wissen. Im Buch (re) visiting Moers lässt er ausgiebig Revue passieren, wie engagiert sich das Moers-Festival seit Jahrzehnten gegen solche Tendenzen stemmt und wie gesellschaftlich notwendig so etwas ist. Es fallen Wort wie Gegenöffentlichkeit, in dem sich Jazz behauptet, ebenso ist von der Notwendigkeit die Rede geht, in Musik Widersprüchlichkeit erfahrbar zu machen. Mittlerweile ist diese Art von Gegenkultur und vor allem dieses Festival längst zur geförderten Hochkultur geworden.
Geist der Freiheit
Die Textbeiträge sind das eine. Die visuelle Botschaft in diesem Buch das andere. Es gibt Fotos, Fotos, Fotos – vor allem Momentaufnahmen von einem gelebten Geist der Freiheit, von jener kreativen Energie, welche auf einem guten Festival von der Musik aufs Publikum übergeht und wieder auf die Akteure auf der Bühne zurück fließt. Einen beklemmenden Subtext während der Hochphase der Pandemie mit seinen Abstandsgeboten und Maskenzwängen hatte das Bild eines sich umarmenden Pärchens auf dem Höhepunkt der Pandemie bekommen (den Autos und Klamotten nach auf die späten 1970er zu datierendes), das auch zum Motiv für das aktuelle Festivalplakat auserkoren wurde. Bilder wie diese zeigen, worauf es ankommt, wofür es zu kämpfen, was es zu bewahren gilt.
(re)visiting Moers will kein Lexikon sein, deswegen bleibt außen vor, wer wann mit wem hier aufgetreten ist. Überhaupt mögen Musikpuristen die eigentliche Programmhistorie, also alles, was den künstlerischen Kern und seine vielen Stilentwicklungen ausmacht, vermissen, da es in diesem Buch in erster Linie um die „Lebensform Moers-Festival) geht. Eine durchaus unterhaltsame Zeitleiste bringt Eckdaten aus den letzten 50 Jahren mit Ereignissen der Zeitgeschichte zusammen. Die Vorgeschichte zu einem Festival in Moers begann demnach im Jahr 1968, wo „weltweiter Widerstand gegen die bestehende Weltordnung“ vermeldet wird. Wie passend! Kurz darauf etablieren Burkhard Hennen und seine Mitstreiter eine neue Musikrichtung namens „Free Jazz“ im Programm ihrer Kneipe namens „Die Röhre“.
Farce de Froppe
Die Erarbeitungszeit für dieses Buch war kurz und es musste aus einer riesigen Flut von Material eine Essenz herausgefiltert werden. In dieser Hinsicht ist eine kleine inhaltliche Ungenauigkeit entschuldbar: Im Jahr 1997 sollte ein spektakuläres Happening den heute gut etablierten Geist einer „kreativen Unterwanderung“ vorweg nehmen: In einem Projekt des Jazz-Aktionskünstlers Frank Köllges waren mehrere Heißluftballons startklar, aus welchen heraus improvisierende Musiker ihr Publikum aus der Luft bespielen sollten – was laut Chronik im Buch auch passiert ist. Kommen wir hier mal jener Aufforderung aus dem Vorwort nach, sich hier zu eigenen Erinnerungsbildern anregen zu lassen. An jenem schwülheißen Vorabend des 17. Mai 1997 ließen zahllose feiernde Menschen – einschließlich des Autors- dieser Rezension in ihren „Party-Basecamps“ ihre verklärten Blicke gen Himmel schweifen in freutiger Erwartung auf musizierende Ballons am Himmel. Der im Programmheft publizierte Projektname „Farce de Froppe“ hatte schon so manche, einschlägige Rauchschwaden durchdringende Lachsalve evoziert. (Übrigens ist das eine Verballhornung des Namens der französischen Atomtstreitkräfte.) Dann sprach sich rasch herum – und dies damals noch rein analog von Mund zu Mund – dass die Aktion wegen Gewitterwarnung abgeblasen werde. Kein Wunder: Es wetterleuchtete bereits und erster Donner grummelte über der vibrierenden, trommelnden Menschenschaar mit ihren bunten Zelten unterm schwarzen Himmel ….
Kerstin Eckstein und Kathrin Leneke (Hg.)
(re)visiting MOERS
Eine Publikation der Moers Kultur GmbH
Verlag Wolke, Hofheim, 2021
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