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„Rapport W – Freiwillig als Häftling in Auschwitz“

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LiteraturBilder zum Undenkbaren   – der französische Zeichner Gaétan Nocq  visualisiert den verstörenden Bericht des polnischen Leutnants Witold Pilecki über dessen Zeit in Auschwitz. Von Martin Schmidt.

Es gibt viele Lebensläufe, die uns erstaunlich, nahezu unglaublich erscheinen. Geschichten, die eine nicht für möglich gehaltene Willensstärke und Zähigkeit ihrer Protagonisten offenbaren. Zu den ungewöhnlichsten gehört die des polnischen Leutnants Witold Pilecki, der sich als einziger Mensch freiwillig in das Konzentrationslager Auschwitz einschleuste.

Pilecki wurde als Reserveoffizier der polnischen Kavallerie einberufen, als die deutsche Wehrmacht am 1. September 1939 in seine Heimat einmarschierte. Wenige Wochen nach der Niederlage formierte sich im Untergrund ein militärisches Netzwerk, die „Geheime Polnische Armee“, die 1942 Teil der  Armia Krajowa (AK) wurde, der sogenannten „Heimatarmee“. Deren Bestreben galt dem Vorhaben, die Herrschaft der Nationalsozialisten von innen heraus zu untergraben.

Im Sommer 1940 informierte Pilecki den Führungsstab der AK über seinen Plan, sich bei einer Straßenrazzia festnehmen und in Auschwitz inhaftieren zu lassen, um dort eine Widerstandsorganisation aufzubauen. Sie sollte später mit Hilfe der AK von außen einen Aufstand organisieren, um das Lager zu übernehmen.

Pilecki ließ sich am 19. September 1940 in Warschau verhaften und kam zwei Tage später in Auschwitz an. Er führte den Decknamen Tomasz Serafiński. Das Lager war erst wenige Monate vorher in Betrieb genommen worden. Über die Gewalt und Willkür, die dort besonders im ersten Jahr von  meist deutschen „Funktionshäftlingen“ (Kapos) ausgeübt wurde, hätte sich niemand eine Vorstellung machen können. Ihre Terrorherrschaft war nahezu unbegrenzt und wurde von den Wachleuten der SS bewusst eingesetzt, um die Angst der Häftlinge aufrechtzuerhalten. Die Möglichkeit eines plötzlichen unerwarteten Todes eines Insassen aufgrund „falschen“ Verhaltens oder auch „nur“ schlechter Laune der Kapos war allgegenwärtig.

Pilecki begann umstandslos mit dem Aufbau von Widerstandszellen in Form weitgehend autonomer Fünfergruppen, die nichts voneinander wussten, um bei Entdeckung durch die SS die Gefahr für das gesamte Netzwerk zu minimieren. Es sollen zeitweise bis zu 800 Personen im Lager Teil dieses Netzwerks gewesen sein. Allein das ist eine unglaubliche Leistung Pileckis, wenn wir bedenken, wie riskant es war, unter diesen Umständen so viele vertrauenswürdige Menschen zu rekrutieren. Auch gelang es, viele Mitglieder in Schlüsselpositionen zu bringen, etwa in Werkstätten und im Häftlingskrankenbau. Obwohl die SS ahnte, dass es eine Widerstandsgruppe gab, gelang es ihr in den fast drei Jahren, die Pilecki in Auschwitz verbrachte, nicht, das Netzwerk aufzudecken. Aber sie war ihm doch so dicht auf den Fersen, dass er beschloss, auszubrechen. Das gelang ihm auch bei einem Arbeitseinsatz in der Bäckerei, außerhalb des Lagers, zusammen mit zwei Mithäftlingen.

Bereits einen Tag nach seiner Flucht notierte Pilecki eine knappe Zusammenfassung der Strukturen in Auschwitz, die er nach Warschau und London übermittelte. Der zweite, ausführliche Bericht, den er zwei Jahre später verfasst hat, bildet die Grundlage für Gaétan Nocqs graphische Umsetzung.

In welcher Weise darf man sich diesem Thema annähern, wie können die Bilder den Bericht des Leutnants fassen? Um es mit den Worten des Zeichners selbst zu sagen: „Wie das Unbeschreibliche abbilden?“

Gaétan Nocq findet eine Bildsprache, die auf berührende Weise unaufdringlich ist. Er vermeidet weitgehend starke Kontraste und gestaltet die Menschen und Örtlichkeiten mit leicht unscharfen Konturen. Diese weiche Darstellungsart hat etwas nebulöses und öffnet einen Resonanzraum des Unwahrscheinlichen, das ein Konzentrations- und Vernichtungslager wie Auschwitz bis heute umgibt,  – weil hier tatsächlich Unvorstellbares geschehen ist, das die meisten, die es er- und überlebt haben, der Sprache beraubt hat. Das besondere Stilmittel des Zeichners ist seine Farbdramaturgie, die er mittels Buntstiften und Aquarell ins Werk setzt. Über weite Strecken ist seine Bilderzählung nahezu monochrom. Denn er gestaltet die verschiedenen Sequenzen der Handlung über zum Teil viele Seiten in einem dominierenden Farbton, der von Blau nach Rot wechselt, in ein Grüngrau übergeht, dann wieder zu Blau oder auch einem Violett wird. So eigenartig das auf den ersten Blick wirkt, so schnell gibt man sich diesem Kunstgriff hin und versinkt in der Erzählung, gebannt sowohl von der visuellen Stärke der Bilder als auch der teilweise lakonischen Dramatik der Geschichte. Die Farbdramaturgie schafft eine Distanz, die das Unglaubliche der Geschehnisse unterstreicht, zu denen wir als Zuschauende nicht wirklich durchdringen können, weil sie unsere Vorstellungskraft überfordern.

Und vielleicht ist es das, was Nocq im Sinn hat. Das Dasein im Lager wird bei allem Schrecken erträglich durch die Routine der Aufgaben, die ein Häftling hat. Wir schauen mit ihm durch eine rosarote, blaue oder violette Brille. Die monochromen Farben sind Ausdruck der Reduktion, die das Leben im Lageralltag beschränkt, eine Reduktion, die aber gleichzeitig die Konzentration auf das Wichtigste und Naheliegendste ermöglicht – das Überleben und die Hoffnung. Wie sonst können wir uns erklären, dass es Menschen gelingt, sich unter solchen Umständen zu organisieren und Pläne zu machen, an die Zukunft zu denken und dafür zielgerichtetes wie gefährliches Handeln auf sich zu nehmen.

Witold Pilecki ist ein Patriot, dessen Mission durch den Umstand befeuert wird, dass in der Anfangszeit des Lagers es vor allem die polnische Intelligenz ist, die hier gezielt vernichtet werden soll. Sein Bericht macht an mehreren Stellen deutlich, dass er ein Polentum vertritt, dem er Mut, Entschlossenheit und innere Stärke zuschreibt. Diese Eigenschaften gelten für ihn selbst sicherlich besonders, aber auch für die meisten Mitglieder des geheimen Netzwerks in Auschwitz. Diese Männer leben im Krieg und deshalb sind sie in der Wahl ihrer Gegenmittel auch nicht zimperlich. Sie züchten typhusinfizierte Läuse, um sie den SS-Leuten auf die Mäntel zu setzen. Sie leeren heimlich den Spitzelbriefkasten und ersetzen die kompromittierenden Mitteilungen durch solche, die die Spitzel selbst bloßstellen. Sie schieben Häftlingen, die sie für Zuträger der SS halten, im Krankenbau falsche Röntgenbilder unter, die sie als TBC-krank ausweisen, was einem Todesurteil gleichkommt. Spitzel werden auch durch Crotonöl geschwächt, die dann im Krankenbau durch Injektionen mit rostigen Nadeln sterben. Es verwundert wenig, dass die Legitimität solcher Aktionen angesichts der unmenschlichen Zustände im Lagersystem der Nationalsozialisten von Pilecki und den beteiligtenMitgliedern des geheimen Netzwerks wohl kaum in Frage gestellt wird. Der Leutnant bleibt hier der Soldat, der sich einem klar definierten Feind gegenübersieht und eine ebenso klar  umrissene Aufgabe zu erfüllen hat: über die Zustände im Lager zu berichten und gleichzeitig den Widerstand aufzubauen und für das Überleben seiner Leute zu sorgen.

Die erfolgreiche Flucht führt Witold Pilecki dann kurioserweise in einem kleinen Dorf zu dem Haus des wirklichen Tomasz Serafinski, unter dessen Namen er in Auschwitz gewesen ist. Dort plant er weiterhin, einen Aufstand mit Hilfe der Heimatarmee durchzuführen. Die Tragik, die seinen Auftrag immer überschattet, ist der Umstand, dass von außen zu keiner Zeit der Einsatzbefehl vom Kommando der Heimatarmee kommt, auf den alle Häftlinge im Netzwerk sehnsüchtig, zweifelnd und wütend warten. So müssen sie dem Morden weiterhin zusehen und können nichts zu seiner Beendigung unternehmen.

Pilecki selbst bleibt konspirativ, als nach dem Krieg eine moskautreue kommunistische Führung in Polen installiert wird. Er arbeitet daran, ein neues Widerstandsnetz gegen die Kommunisten aufzubauen. Im Mai 1947 wird er verhaftet und ein Jahr später als „Volksfeind“ erschossen. Der ebenfalls in Auschwitz  gewesene Ministerpräsident Józef Cyrankiewicz, der selbst Teil des Widerstands im Lager gewesen ist, lehnt eine Begnadigung ab.

Gaétan Nocq hat Witold Pileckis Bericht genial umgesetzt. Es ist mehr als angemessen, sein Werk in den höchsten Tönen zu loben. Er überführt die meist nüchtern beschreibende Art des Berichterstatters in ein Stimmungsbild, das die Worte nicht nur begleitet, sondern die Bestandsaufnahme atmosphärisch so verdichtet, dass wir ein Gefühl für die Gemütslage dieser mutigen wie zweifelnden und verzweifelten Männer bekommen. Nocq gelingt es, mittels der Bilder das Emotionale aufscheinen zu lassen, das Pileckis Bericht nur unterschwellig begleitet, und sich dabei der Distanz, die wir als Nachgeborene und Beobachtende haben, immer bewusst zu sein. Das ist große Kunst und verdient uneingeschränkte Bewunderung.

Wer parallel zu dieser großartigen Graphic Novel den Originalbericht Pileckis zur Hand nimmt, wird Gaétan Nocqs Adaption noch mehr zu würdigen wissen.

Gaétan Nocq
Rapport W – Freiwillig als Häftling in Auschwitz
Splitter Verlag, Bielefeld 2021
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In Berlin eröffnete im Januar 2022 eine Zweigstelle des in Warschau ansässigen Pilecki-Instituts.
Das Haus zeigt eine Dauerausstellung zum Leben und Wirken von Witold Pilecki.
Öffnungszeiten: Dienstag bis Sonntag 10 bis 18 Uhr, Pariser Platz 4A, 10117 Berlin (direkt am Brandenburger Tor)

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