Im Herbst 1771 kam der Straßburger Student Goethe in das Elsässische Dorf Sesenheim. Es entwickelte sich eine Liebesbeziehung zu der Pfarrerstochter Friederike Brion. Im Frühsommer suchte der Student das Weite, und niemand hörte je wieder von ihm. Bis Richard Tauber ihn im Oktober 1928 in Franz Lehárs Singspiel Friederike wiederauferstehen ließ. Eine Wiederauferstehung des Singspiels wiederum erlebten an Fronleichnam die Besucher des Staatstheaters am Gärtnerplatz zu München. Von Stephan Reimertz.
Goethe verbrachte als Einundzwanzigjähriger etwa zehn Monate in Straßburg. Er reiste im Herbst 1770 an, um sein Justudium fortzusetzen, und kehrte im August 1771 nach Frankfurt am Main zurück. Während seines Aufenthalts in Straßburg hatte der junge Dichter verschiedene prägende Erfahrungen; prägend für Friederike Brion. Um zu erfahren, wie weit die Beziehung ging, müsste man den Germanistikprofessor Dieter Borchmeier fragen. Goethe selbst kann es nicht sagen, da er weder die Goethe-Vorlesung von Borchmeier besucht noch dessen Goethe-Biographie gelesen hat. Das Staatstheater am Gärtnerplatz zu München präsentiert uns nun Franz Lehárs Singspiel Friederike, in dem sich der Komponist jener folgenreichen Tage annimmt. Und immer wenn eine konzertante Aufführung angekündigt wird, oder, wie hier eine halbszenische, können wir fröhlich sein. Denn das besagt nichts anderes als die Tatsache, dass wir uns auf eine vollgültige Inszenierung ohne die Mitwirkung eines jener egomanischen Regiefuzzis freuen dürfen, welche das Theaterleben unserer Zeit immer mehr unter den Trümmern ihrer gestörten Persönlichkeiten begraben.
Die Substanz des Singspiels
Florian Hackspiel nimmt in München lediglich die »szenische Leitung« für sich in Anspruch. Doch was er uns in den zwei Stunden des geschickt und angemessen auf ihren Kern zusammengestrichenen Singspiels bietet, dürfte in seiner szenischen Zurückhaltung und Reduktion auf das Wesentliche Franz Lehárs Werk eher gerecht werden als beispielsweise die vollkommen verdrehte und verpatzte Masche, in der uns Christof Marthaler an der Bayerischen Staatsoper die Musikalische Komödie Giuditta desselben Komponisten präsentiert. Da sagt man uns mit jeder Szene, dass der aufgedrehte Inszenator-Triumphator weit über dem bemitleidenswerten Komponisten und dessen armseligem Werk stehe, welches er uns ausschließlich durch Mätzchen wie der Einfügung von anderweitigen Arien und einem alle Zuschauer und Mitwirkenden anödenden Bühnenbildes genießbar mache. Hackspiel hingegen nimmt das Werk ernst. Andreja Zidaric singt und spielt die Titelheldin in der Anmut und Würde der hohen Frau. Hier bedient sich das Regiekonzept eines kleinen Kunstgriffs. Friederike Brion wird uns nicht als das junge Mädchen dargestellt, das sie in jenen Tagen war, vielmehr kommuniziert Frau Zidaric einen Vorschein all der Damen, die der Dichter später im Leben noch lieben sollte, vor allem Charlotte von Steins. Die Ernsthaftigkeit der Herangehensweise des ganzen Teams zahlt sich erwartungsgemäß auch im Gesang aus.
Figurengestaltung nach dem inneren Ideal der historischen Vorbilder
Andreja Zidaric gönnt uns die emphatische Erfahrung der eingängigen Lehár-Arien mit ihrem wunderbaren und starken Sopran. Gewitzt ist auch die Besetzung der Herren. Lucian Krascnec gibt einen Goethe von nachgerade italienischem Aussehen und Feuer, präsentiert uns also den Dichter nach dessen innerem Ich-Ideal. Die disziplinierte und modulationsfähige Singstimme begeisterte alle Zuschauer in der Fronleichnams-Premiere. Das war ein Goethe, wie ihn sich namentlich die Damen immer gewünscht haben. Der historische Goethe freilich, und darum geht es auch hier, hielt sich an sein Gesetz der Antipathie: »Wir lieben die Fliehenden und fliehen die Liebenden.« Er verlässt das Mädel und schreibt eines seiner später berühmtesten Gedichte, Willkommen und Abschied, in dem letztendlich ein schlechtes Gewissen wortreich kaschiert wird. So sollte der Dichter es immer wieder mit den Frauen machen. Erst bei Charlotte von Stein, die ihn durchschaute und auf Distanz hielt, lief er dann literarisch zur großen Form auf. Sie konnte er nicht wirklich haben. Ganz unwillkürlich trägt die feinsinnige Inszenierung dem zugrundeliegenden psychologischen Krampf Rechnung, indem sie eine gewisse Steifheit nie verliert. Diese freilich ist es wohl immer, die die deutsche Kultur von der französischen, romanischen überhaupt, oder auch vom kosmopolitisch-jüdischen Lubitsch-Touch unterscheidet.
Das Dämonische des Gegenspielers
Interessant und vielschichtig legt Caspar Krieger die Gegenfigur des Lenz an. Auch hier ist wiederum erstaunlich, wieviel vom historischen Gehalt und seiner Tragik noch im Singspiel ankommt. Bei dem Dichter Jakob Michael Reinhold Lenz handelt es sich um eine jener düsteren Figuren, welche man mit C. G. Jung auf der Skala der Archetypen als »Schatten« charakterisieren würde und für die in unserer Zeit René Girard die treffende Bezeichnung eines »hypermimetischen Charakters« geprägt hat. Solche Leute sind hochgefährlich. Sie verfolgen ein Vorbild, das sie gern selbst sein möchten. Typisches Beispiel war der Mann, der sich selbst für John Lennon hielt und diesen folgerichtig erschoss. Ganze Völker können vom Wahn des hypermimetischen Charakters befallen werden. Enthüllend ist Hitlers Aussage: »Es kann keine zwei auserwählten Völker geben.« Darauf läuft es in der Konsequenz immer hinaus, und Caspar Krieger zeigt uns im Singspiel einen Lenz, der zwar vordergründig nur Goethes Lochschwager werden will, indem er dessen Freundin flachlegt, dessen dämonische Seite hier trotz der vermeintlichen Heiterkeit der Handlung indes durchaus spürbar wird.
Verliebtheit in familiärer Atmosphäre
Oft verkehrten damals die Studenten bei den örtlichen Familien. Dies kam Goethe entgegen. In jenen Jahren pflegte er sich in junge Mädchen stets innerhalb einer familiären Atmosphäre zu verlieben; so auch kurz darauf in Lilli Schönkopf in Leipzig und Charlotte Buff in Wetzlar. Stets wurde die Amoure zum Ausgangspunkt reichen lyrischen Schaffens und eines umfangreichen Briefwechsels mit der Angebeteten ebenso wie mit dem Umfeld. So geschah es Goethe auch in Straßburg und in dem fünf Meilen nördlich gelegenen Sesenheim, einem Dorf in der Rheinebene, wo der Student bei Pfarrer Brion gerngesehener Gast wurde. Das evangelische Pfarrhaus ist ein Ausgangspunkt des deutschen Geisteslebens. Fast alle Gedichte aus dem reichhaltigen Strauß der in jener Zeit entstandenen sind besonders bekannt geworden, allen voran Willkommen und Abschied. Um genauer zu erfahren, an welchen Poemen sich die Textdichter Ludwig Herzer und Fritz Löhner-Beda am meisten bei ihrem Textbuch für Friederike bedienten und auf welche Fassung sie jeweils zurückgegriffen haben, müsste man wiederum Professor Borchmeier konsultieren. Allerdings fällt auf, dass Kleine Blumen, kleine Blätter und vor allem das Heideröslein zentrale Rollen erhalten. Der Mut von Franz Lehár, ein Goethe-Gedicht zu vertonen, dessen sich bereits sein Landsmann und Namensvetter Schubert angenommen hat, wurde belohnt. Tatsächlich kann Lehárs Heideröslein neben dem Schuberts stehen, was allerdings zu Hause am Klavier noch stärker herauskommt als im Drogensound des Lehárschen Klangkörpers. Chor und Orchester des Staatstheaters unter Michael Brandstätter sind hier voll in ihrem Element.
Inszenierung auf dem Punkt
Das angedeutete, stilisierte Décor vermittelt mehr, als wenn man sich an Derrida gehalten, das elsässische Dorf komplett dekonstruiert und auf der Bühne des Gärtnerplatztheaters wiederaufgebaut hätte. Alles in allem beweist die gelungene Inszenierung, dass grundsätzlich eine zurückhaltende, auf das Wesentliche reduzierte Fassung sehr viel mehr von dem Unterschwelligen und Unausgesprochenen eines Werkes und dessen historischen Voraussetzungen zu zeigen vermag, als eine mit Unsinnigem und vermeintlich Provokativen überfrachtete, nicht zuletzt in der eitlen und sinnlosen Lehár-Verdrehung durch Marthaler. Als Künstler muss man eben auch die Fähigkeit haben, mit einer gewissen Demut an ein Werk heranzugehen und sich nicht um jeden Preis vor dieses zu stellen. Wie eindrucksvoll das Ergebnis einer solchen Werkgerechtigkeit anstrebenden Arbeit ausfallen kann, zeigt uns jetzt die Friederike des Gärtnerplatztheaters. Christoph Wagner-Trenkwitz fasst als Erzähler und Moderator Teile der Handlung zusammen oder springt als Libero in angedeuteten Rollen ein. Das ist eine Form von »Epischem Theater«, die man sich gefallen lassen kann.
Fritz Löhner-Beda, der Unvergessene
Peter Käser und Silvia Aguilar Reveroll lassen sich hier lediglich als Kostüm- bzw. Bühnenbildbetreuer titulieren und bieten doch eine zeitlose, alles wichtige vermittelnde Spielbühne ebenso wie interessante Kostüme. Entzücken die fünf jungen Mädeln in Carl-Larsson-Kostümen, der Herrenchor im zeitlosen Frack, so optieren die Damen eher für den Stil um 1880, Goethe freilich mit einem Jackett der Originalepoche. Die älteren unter unseren Lesern werden sich vielleicht noch an die Uraufführung von Lehárs Huldigung an den Dichterfürsten erinnern und daran, dass damals im Berliner Metropol-Theater im Jahre 1928, die männliche Hauptrolle keinem anderen als Richard Tauber auf den Leib geschrieben war. Nicht ein Jahr später kam das Lied Dein ist mein ganzes Herz heraus, wieder gesungen von Tauber und von demselben Team erschaffen: Ludwig Herzer und Fritz Löhner-Beda als Textdichter und Lehár als Komponisten. Herzer war im Hauptberuf Frauenarzt und Löhner-Beda ein Vollblutschriftsteller, dem wir viele sprichwörtlich gewordene Liedtexte verdanken und der im KZ Auschwitz ermordet wurde, ohne dass die unmittelbar an diesem Mord beteiligten Direktoren der IG Farben jemals zur Rechenschaft gezogen worden sind.
Gärtnerplatztheater
Gärtnerplatz 3
80469 München
It was done almost anyway thought
The Gärtnerplatztheater in Munich recently presented Franz Lehár’s enchanting Singspiel Friederike. Under the sensitive direction of Florian Hackspiel, the work came to life. Andreja Zidaric impressed in the role of Friederike Brion, while Lucian Krascnec shone as Goethe. Caspar Krieger gave the character Lenz a fascinating depth.
The production thrilled with an artfully designed set that subtly captured the atmosphere of the village of Sesenheim. The direction and team revealed messages and unspoken emotions lying between the lines. The musical accompaniment by the choir and orchestra of the State Theatre under the direction of Michael Brandstätter was stirring.
Friederike at the Gärtnerplatztheater was an impressive revival of a forgotten masterpiece. The audience was captivated from beginning to end. The choice of actors, the staging and the costumes created a magical atmosphere of times gone by. The Gärtnerplatztheater once again proved its talent and delivered an unforgettable theatrical experience.“
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