Von Barbara Röder.
«Nichts kommt Bayreuth gleich» (Joachim Kaiser)
Die Welt ist zerbrochen. Bayreuth entsteht neu; jedes Jahr. 148 Jahre nach den ersten Bayreuther Festspielen 1876 tauchen wir für kurze Weihestunden hinein, in ein einzigartiges Paralleluniversum, welches weltweit nirgends zu finden gibt. «Bayreuth ist einzigartig und der Bayreuther Magnet zieht jeden Sommer Tausende auf den Grünen Hügel.» Die realisierten Utopien Wagners (Siegfried Melchinger) sind bei weitem noch nicht aufgebraucht! Auch «Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik» (Friedrich Nietzsche) ist als große, humane Idee, als Fest hier in Bayreuth für alle erlebbar. Der mythische Sound-Kasten, die verdeckte Orchestergraben-Akustik des hölzernen Festspielhauses garantiert, dass es leiser, voller und durchsichtiger, magischer tönt als in jedem anderen Opernhaus der Welt.
Hinter uns hat Kulturstaatsministerin Claudia Roth in ihrer Loge Platz genommen. Vor mir summt ein Mann: „Abends, wenn ich schlafen geh…“, das herrliche Liedchen aus Humperdincks “Hänsel und Gretel“. Eine sanfte musikalische Spitze gegen Roths Idee, Bayreuth bunter, divers, jung und vielfältiger zu machen, indem Werke von Zeitgenossen Wagners auf dem Grünen Hügel zu spielen seien.
Mit den immer ausverkauften Wagner-Kinderopern, die der Festivalchefin Katharina Wagner eine Herzensangelegenheit sind, oder den Opern-Air-Konzerten ist bisher viel, sehr viel getan, was die Öffnung der Bayreuther Festspiele für alle betrifft. Weiteres wird folgen! Die Bayreuther Festspiele des 21. Jahrhunderts sind zukunftsorientiert, müssen es sein, um das geistige Erbe, dem Zuruf Richard Wagners „Kinder schafft Neues“ sinnvoll Gestalt und Inhalt zu geben.
Eine Verheißung: „Tristan und Isolde“
Musikemotional befinden wir uns inmitten der Geburt der Tragödie, wenn alles sich um «Tristan und Isolde» dreht. Sechs verheißungsvolle Stunden wird das Musikalische Drama dauern. Ich blicke zurück: Pures Schaudern überkam mich, als ich auf einem Treppenplatz 1987 meinen ersten „Tristan“ erlebte. Peter Hofmann, Bayreuths glorreicher Heldentenor auf dem Grünen Hügels, sang diesen legendären Tristan. Ein Englischhorn, die Schalmei, das Füllhorn der Trauer umhüllt die beiden Sehnenden, Tristan und Isolde, mit heilenden Klagelauten damals wie heute. Wie sanftes, schweres Vlies scheint die aufkeimende Melodie den Raum auszufüllen, sich auf die Haut der sich suchend Verliebten zu legen.
Schon im Vorspiel von «Tristan und Isolde“, das ebenso wie der Beginn des dritten Aufzugs in diesem Jahr vor geschlossenem Vorhang langsam seine magische Zärtlichkeit, den berühmten «Tristanakkord» offenbart, gewährt uns Dirigent Symeon Bychkov seinen musikdramatisch durchpulsten Blick. Langsam, mit stockendem Atem, tastend und ausblühend, entfaltet sich unter seinem Dirigat der rätselhafte Tristanakkord. Bychkov bietet ihn als aufgebrochenen Akkord: rau, real und erzig. Nie klingt er verkitscht, sämig oder rauschhaft. Alles ist musikalisch im Flow, sogar die Stille zwischen den Akkorden. Schwelgend ausbalancierte Melodiebögen nähern sich differenziert und fein ausmusiziert der sich anbahnenden Ektase des Begehrens. Bychkov weiß genau, wohin diese intime Entrückungsreise geht: mitten hinein ins Herz der utopischsten aller Lovestorys überhaupt: hinein in den Kosmos von „Tristan und Isolde“.
Zwei Gefangene in den Stundengläsern ihrer Erinnerung
Vom blanken Deck baumeln, spärlich drapiert, schwebende Taue herab. Inmitten befindet sich ein Krater, der ins Innere eines Segelschiffs weist. Im zweiten Aufzug werden wir einer Schatzkammer gewahr, die Tristan in huldvoller Leidenschaft ausstaffiert hat. Seine angesammelten, antiken Eroberungsstücke türmen sich im Bauch des hölzernen Schiffs: ein ausgestopfter Fuchs, ein Globus, ein Cello, Gemälde, Statuen und Stuckreliefs, Zahnräder und Isoldes überdimensionales, weißes mit Tinte beschriebenes Kleid sowie ihr Kopfschmuck, den sie als bräutliche Braut im ersten Aufzug trug. In dieser Herzens-Schmerzenskammer, in Tristans persönlichem Reich, seinem Rückzugsort und Schutzraum voller Erinnerungen werden die Sehnenden sich wiedersehen. Ein ähnliches Kraterloch hat einst der Bühnenmagier Hans Schavernoch in der legendären Harry Kupfer Ring-Inszenierung von 1990 für seine Walküre und seinen Siegfried konstruiert. Dies ist eine meisterliche Reminiszenz an eine gefeierte, richtungsweisende Bayreuther Werkinnenschauen, die Bühnenbauer Vytautas Narbutas auf die traditionsträchtigen Bretter des Lebens und Vergehens da präsentiert. Narbutas zeigt versteckte, hineingeheimniste Hinweise, vergangene Symbole, die uns ganz bewusst zu Betrachtern und Miterlebenden einer vertrackten Gefühlskonstellation werden lassen.
Zuerst doch begegnen wir Isolde im ersten Aufzug, die mit einem übergroßen Federkiel ihr über-
dimensionales Hochzeitkleid, das wie ein runder, gewaltiger Seidenteppich vor dem Krater auf Deck thront, skizziert. Es sind Worte, Zeichen, Fragment, die Trauer über ihren verlorenen Liebeszustand Zeugnis ablegen, für sie allein Bedeutung haben. Auf dem Körper Tristans sehen wir später Tattoos, die diesen Zeichen ähneln. (Kostüme: Sibylle Wallum) Erinnerungen an Jean-Pierre Ponnelles Bayreuther Tristan-Inszenierung von 1983 und dem gigantischen Isolden-Königinnenkleid werden wach!
Ein jeder bewältigt sein Trauma anders! Das zeigt Thorleifur Örn Arnarsson, der Regisseur in seiner Bayreuther Neuinszenierung von «Tristan und Isolde». Isolde muss schreiben. Sie notiert ihre Leidensgeschichte einer verlorenen Liebe: Sie pflegte einst Tristan, der ihren Verlobten Morold im Zweikampf besiegt. Tristan und Isolde verliebten sich damals. Jetzt kehrt er wieder, um sie als Braut seines Dienstherrn König Marke zu holen. Dies wirkt wie ein Trauma bringender Liebesverrat für die gedemütigte Isolde. Tristan versucht sein Sehnen, seine Traumata durch Ansammeln von Artefakten zu bewältigen. Er richtet sich im Schiffsbauch eine museale Erinnerungsstätte, seinen heiligen Rückzugsort ein. Im dritten Aufzug kauert Tristan in all seinen ihm heiligen Artefakte und liegt angelehnt auf seiner Erinnerungsinsel. Er erwartet den Tod und Isolde. Um ihn herum ragt der skelettartige Schiffsrumpfs des einstigen Unglückschiffs gen Himmel.
Doch kurz zurück zum Anfang der Tragödie : Wenn sich die ehemals Geliebten auf dem Oberdeck des Segelschiffs näherkommen, sind beide zutiefst verletzt und traumatisiert. Wie im richtigen Leben stellt Regisseur Arnarsson textimmanente Fragen: „Was steuert, was zieht uns? Was wirkt in der Wirklichkeit fort?“ Das fragt auch Richard Wagner!
Tristan und Isolde hatten ihre Zweisamkeit. Ihren Liebestaumel. Jetzt, wenn wir ihnen begegnen, sind sie sich fremd geworden. Tristan bekennt: „Du kennst mich nicht. Du weißt nicht, wer ich bin.“ Isolde sieht den traurigen Mann. „Er sah mir in die Augen. Ich kenn ihn besser“ verlautet sie. In tiefe Nebelschwaden gehüllt, finden sie sich dann doch wieder, ummantelt von Isoldes vollgeschriebenen Brautkleid. Den Todes-, Liebes- oder Vergessenheitstrank schlägt sie ihm aus der Hand. Er ist in einem Medizinfläschchen, dessen Inhalt ihn einst gerettet hat. In dieser Inszenierung bleibt es ein Rätsel, was eigentlich der Inhalt des Fläschchens ist. Verletzt er sich im zweiten Aufzug damit, trinkt er daraus?
In Flutlicht und Nebel gehüllt, lassen Tristan und Isolde im ersten Aufzug ihre verlorene Liebe auf-keimen. Die der Musikdramatik immanente Personenregie von Thorleifur Örn Arnarsson, dessen wunderbare Sängerdarsteller Andreas Schager (Tristan) und Camilla Nylund (Isolde) die Seelenbe-findlichkeiten von Tristan und Isolde meisterlich verkörpern, verweist zudem auf die psychologische Hellsichtigkeit Richard Wagners: : Tristan ist durch den Blick Isoldes auf sich selbst zurückgeworfen. Ihr Blick enttarnt, entblößt seine Gefühle, setzt verdrängtes Sehnen, ungestillte Wonnen einstiger, glücklicherer Tage frei. Tristan erkennt sich durch ihren Blick. Das macht ihm Angst. Ungeheure Angst! Ebenso blickt Isolde tief hinein in ihr Inneres, erlebt ihre Verwandlung, sie entfaltet ihr Wesen: aus der schmerzlichen Betrogenen wird die sich wieder Verliebende. Das Erkennen im Anderen schließt aber nicht die Irritation, Fremdheit und Ferne aus, die der Andere für Isolde, verkörpert. Das Erfüh-len, trotz Erkennen des Wesens einen Fremden im geliebten Gegenüber wahrzunehmen, beschwört Richard Wagner musikdramatisch in «Tristan und Isolde». Nicht sein eigenes, damaliges Gefühlschaos mit Mathilde Wesendonck in Zürich aus dem inspirativen Fokus zu verlieren.
Andreas Schager erweckt mit seinem kraftvollen, stählernen Tenor und mit hochintelligenter Per-sonengestaltung einen Tristan, der menschliche, innige, zutiefst glaubhafte Wesenszüge aufweist. Dass die Stimmen nicht so recht zusammenpassen wollen, zum einen der heldisch, leicht überdrehte Tenor Schagers und der eher zurückhaltende, silbrig anmutende Sopran Nylunds macht erlebbar, dass im wahren Leben auch nicht immer alles zusammenpasst, um große, gesangliche Kunst zu erleben, wie an diesem außergewöhnlichen Bayreuther Premierenabend.
Isolde ist genauso wie Tristan eine Kunstfigur, die in Bayreuth zur individuellen Projektionsfläche ausgestaltet wird. Beide für sich betrachtet stehen sie sich wie solitäre, ikonische Kraftwerke der Emotionen gegenüber. Andreas Schager und Camilla Nylund verleihen dem berühmtesten Liebes-paar menschliche Züge, zeigen charakterliche Schwächen mit den wir uns identifizieren können, ganz im Sinne des Psychologen Richard Wagners. Auch das übrige Ensemble weist noble, sängerische Menschlichkeit in diesem berückenden Seelendrama auf.
Tristan und Isolde- Bayreuth 2024 – part 3:
Günther Groissböck, der zu Unrecht einige Buhs im Schlussapplaus abbekam, singt kernig sonor mit mitfühlendem Bass den leidenden König Marke. Christa Mayer (Brangäne), eine verlässliche Kraft auf dem Grünen Hügel, besticht mit erdig voller Brillanz und singt tonschön „Einsam wachend in der Nacht…“. Der treue Kurwenal Olafur Sigurdarson gestaltet ihn mit rauer, bedachter Präzision und traut der Verstrickung, in welcher sich Tristan befindet, nicht. Birger Radde zeigt einen gut tönenden, verschlagenen Melot, dessen Hinterhalt Tristan zu spät gewahr wird. Daniel Jenz (ein Hirt), Lawson Anderson (ein Steuermann), Matthew Newlinals (junger Seemann) und die gut einstudierten Chöre von Eberhard Friedrich ergänzen vorzüglich das festliche «Tristan und Isolde»-Premierenensemble.
Großer Jubel für das Traumpaar Camilla Nylund (Isolde) und Andreas Schager (Tristan). Frenetischen Beifall genossen Semyon Bychkov und das fulminant einfühlsam aufspielende Bayreuther Festspielorchester. Die üblichen Buhs für das Regieteam um Thorleifur Örn Arnarsson schmälern nicht den Eindruck Einzigartiges erlebt zu haben. Denn «Nichts kommt Bayreuth gleich!»
„Tristan und Isolde“ von Richard Wagner
Regie: Thorleifur Örn Arnarsson, Musikalische Leitung: Semyon Bychkov, Bühne: Vytautas Narbu-tas, Kostüme: Sibylle Wallum, Dramaturgie: Andri Hardmeier, Licht: Sascha Zauner, Chöre: Eber-hard Friedrich.
Mit: Andreas Schager, Camilla Nylund, Günther Groissböck, Olafur Sigurdarson, Birger Radde, Christa Mayer, Daniel Jenz, Lawson Anderson, Matthew Newlin.
Premiere am 25. Juli 2024
Dauer: 6 Stunden, zwei Pausen
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