Seine verblüffende Produktivität macht atemlos. Auch mit Mitte neunzig kennt Jürgen Habermas kein Bremspedal. Für Philipp Felsch ist er »Der Philosoph«. Unter dem Motto »Habermas und wir« lotet der Kulturhistoriker die Beziehung der jüngeren Generation zu dem Gelehrten aus, Besuche in Starnberg inbegriffen. Von Stephan Reimertz.
Erzähler der Theoriegeschichte
Philipp Felsch ist ein Geistesgeschichtenerzähler. In einem an die französischen philosophes der Aufklärung erinnernden Stil grast er die intellektuelle Sozialgeschichte der Bundesrepublik ab. Will der 1972 geborene Gelehrte sich seiner eigenen Vorgänger versichern und die ihm vorangehenden beiden Generationen ausloten? Will er seine Zustimmung zum System dartun und signalisieren, dass man mit ihm keinerlei Schwierigkeiten haben wird? Spannend jedenfalls ist seine jüngst erschienene Abenteuergeschichte der großen Nietzsche-Ausgabe, der beiden italienischen Herausgeber und ihrer Buscharbeit in der DDR. Wer als Schüler erleben durfte, wie diese Nietzsche-Ausgabe in die Taschenbuch- und damit in die Taschengeldsphäre absackte, dürfte sich den Editoren-Schelmenroman bestens unterhalten zu Gemüte geführt und ihn wie alle Felsch-Schmöker – das gilt auch für den neuen »Habermas« – in einem Rutsch gelesen haben. Als wäre der Autor selbst dabeigewesen, liest sich auch seine um die Geschicke des Merve-Verlags gruppierte Erzählung Der lange Sommer der Theorie. Geschichte einer Revolte 1960–1990, deren Schwerpunkt wiederum im West-Berlin der achtziger Jahre liegt. Stets vermag der Autor die Entwicklung der Theorien im Spannungsfeld sozialer Beziehungen aufleuchten zu lassen.
Das Haus der Philosophie
So überrascht es nicht, wenn seine Skizzen sich als Einführung in die jeweiligen Themenfelder bestens eignen. In Felsch hat nun Jürgen Habermas einen Interpreten gefunden und in dem neuen Buch, das in dem 1919 von der Verlegerfamilie Ullstein gegründeten Propyläen Verlag erschien, eine intellektuelle Biographie, die den Philosophen durchaus so interessant darstellt wie er ist, das umgebende Land freilich interessanter macht als es je war. Eine Probe seiner erzählerischen Fertigkeit gab Felsch bereits zusammen mit dem Schriftsteller Frank Witzel in dem Gesprächsband BRD Noir, wo er das Land in düsteren Farben zeigte und ihm nebenbei den passenden Staatsnamen verlieh. Der Grauschleier über der Bundesrepublik findet seine Entsprechung in der Bleiwüste Habermasscher Texte, und wir erfahren nun, wie hier Absicht verborgen liegt: Fasziniert und abgestoßen durch Martin Heidegger, versuchte Habermas von Anfang an, das Imago des Großen Denkers in sich selbst gar nicht erst aufkommen zu lassen und jede Art von stilistischer Brillanz zu vermeiden. Das ist ihm gelungen, wenn man an Formulierungen wie »Nietzsche als Drehscheibe« u. v. m. denkt. Allein niemand macht ihm seinen Rang streitig, und er wurde ein großer Mann wider Willen. »Es ist an der Zeit, mit Heidegger gegen Heidegger zu philosophieren«, zitiert der Autor des Philosophen Motto bei dessen Intrada auf der philosophischen Weltbühne. Felsch besuchte Habermas zu Hause in Starnberg und betont dessen Understatement. Bereits die Garage, pardon: das Wohnhaus ist ein philosophisches Statement. Eines seiner weißen Wände stellt auch den Buchumschlag dar. Die ausführenden Architekten Hilmer & Sattler und Albrecht berichten: »Gespräche mit dem Bauherrn über das Haus Wittgenstein in Wien waren wichtige Ausgangspunkte für den Entwurfsvorgang.«
Kommentator der Bundesrepublik
Ludwig Wittgenstein freilich betonte stets die Einheit von Ethik und Ästhetik. Habermas’ politischer Haltung dagegen scheint es zu entsprechen, sich von jeder Art von Ästhetik abzuwenden. Felsch hat auch den Herkunftsort von Habermas im Rheinland besucht, und es scheint, dass der Denker über eine ähnliche kleinbürgerlich-protestantische Herkunft verfügt, wie sie für deutsch Philosophen typisch ist, man denke nur an Hegel oder Fichte.
Philipp Felsch wartet mit interessanten Zitaten auf, die belegen, wie man gerade in angelsächsischen Kreisen das Protestantische an Habermas gleich erkannte. In der Öffentlichkeit wurde der Philosoph durch Arbeiten zur Sozialphilosophie mit diskurs-, handlungs- und rationalitätstheoretischen Beiträgen bekannt, mit denen er die Kritische Theorie von Horkheimer und Adorno in neuer Gangart weiterführte. Für Jürgen Habermas bilden kommunikative Interaktionen, in denen rationale Geltungsgründe erhoben und anerkannt werden, die Grundlage für die Handlungskoordinierung vergesellschafteter Individuen, deren Handlungsräume durch den Dualismus von System und Lebenswelt bestimmt werden. Neben den fachspezifischen Diskursen engagiert sich der Philosoph zudem regelmäßig öffentlich in aktuellen politischen Debatten, etwa über Eugenik, Religion, die Verfassung Europas, die Rolle der Grundrechte im Ausnahmezustand der staatlichen Pandemiemaßnahmen sowie das deutsche Regierungshandeln in Bezug auf Waffenlieferungen ins ukrainische Kriegsgebiet. Hier tritt er für Waffenstillstand ein, wie wir jetzt auch von Felsch erfahren, bleibt jedoch bei der staatsnahen Lesart eines einseitigen Angriffskrieges auf die Ukraine, den Russland entfesselt habe.
Die Idee und ihr Schatten
Obgleich Philipp Felschs Buch sich durch Prägnanz auszeichnet, gelingt es ihm, kritische Einwände, die Habermas durch sein Leben begleiteten, zu berücksichtigen. So nährten viele Leser angesichts seines ersten Hauptwerkes Strukturwandel der Öffentlichkeit von 1962 das Gefühl einer diskurstheoretischen Idealisierung. Manch einer fragte sich, ob Habermas‘ Betonung kommunikativer Interaktionen und rationaler Geltungsgründe mitunter ein geschöntes Bild der gesellschaftlichen Realität zeichne. Denn auch in der Bundesrepublik existierten neben diskursiven Prozessen Machtverhältnisse, ideologische Verblendungen und emotionale Faktoren, die die Meinungsbildung und Entscheidungsfindung beeinflussten. Nicht wenige Leser stellten sich die Frage, ob hier strukturelle Barrieren ausreichend berücksichtigt wurden. Habermas‘ Theorie könnte stärker auf jene Momente eingehen, meinte der eine oder andere, die marginalisierten Gruppen die Teilhabe an öffentlichen Diskursen erschweren; Diskriminierung, Armut und mangelnde Bildung oder wenn derjenige nicht dem von Habermas verkörperten intellektuellen Mainstream angehört, schränkten die Möglichkeiten ein, sich Gehör zu verschaffen und die eigene Meinung einzubringen.
Herrschaftsfreier Diskurs als Ideal
Wenn Habermas auf das Caféhaus des 18. Jahrhunderts hinweist und betont, wie sich hier ein freier bürgerlicher Diskurs zuerst entfaltet habe, stellt er zugleich den Salon keineswegs hintan. Man denke nur an Catherine de Vivonne, Marquise de Rambouille, deren jour fixe sich prononciert im Widerspruch zum Hofleben entwickelte. Noch ein jour fixe des späten 20. Jahrhundert, wie jener von Nicolaus Sombart, sollte dem freien geistigen Austausch jenseits der Diktatur der Mediengesellschaft dienen. Zeitgenössische Kritiker warfen Habermas dagegen vor, er unterschätze populistische Strömungen. Die zunehmende Verbreitung von extremistischen Positionen in der Bundesrepublik zeige, dass die Bereitschaft zur rationalen Argumentation und zum Kompromiss sinke – und damit die Chancen seines Ideals des herrschaftsfreien Diskurses. Diese Strömungen lehnten häufig den Diskurs mit Andersdenkenden ab und betrieben stattdessen Stimmungsmache und Ausgrenzung. Habermas‘ Diskursethik habe zudem nur begrenzte Reichweite, meinten viele Leser. Sie fokussiere auf die moralische Begründbarkeit von Normen und Regeln. In der komplexen Realität der Bundesrepublik mit vielfältigen ethischen Herausforderungen (z.B. Bioethik, Klimawandel) stießen die Prinzipien der Diskursethik hingegen an ihre Grenzen. Habermas‘ Theorie der deliberativen Demokratie gehe davon aus, dass alle Bürger gleichberechtigt an politischen Diskursen teilnehmen könnten. In der Bundesrepublik prägten jedoch ökonomische Ungleichheiten, politische Einflussnahme und Medienmacht die öffentliche Meinungsbildung.
Buch mit Haltungslosigkeit
Habermas konnte stets veröffentlichen, wo er wollte. So wählte er vorzugsweise die Wochenzeitung »Die Zeit« und den Suhrkamp Verlag. Der Theoretiker des herrschaftsfreien Diskurses wurde Teil des Herrschaftsdiskurses. So wurde Habermas’ publizistische Situation von Anfang an paradox. Felsch sagt dazu nichts, doch mit dem schmucken kleinen Buch empfiehlt er sich, der als Professor für Kulturgeschichte an der Humboldt-Universität firmiert, für den nächsten Karriereschritt und hält sich zugleich politisch alle Optionen offen. Seine Stellung besteht darin, dass er keine bezieht. Darin unterscheidet er sich dann doch stark von den philosophes, die im 18. Jahrhundert nicht selten Kirche, Staat und Gesellschaft gegen sich aufbrachten und auch schon einmal im Gefängnis landeten.
Kritik als Betriebsform
Als der Historiker Ernst Nolte Mitte der achtziger Jahre noch einmal auf allgemein bekannte Tatsachen wie die Vorbildfunktion des Archipel Gulag für die deutschen Konzentrationslager und die Bedeutung der Angst der westlichen Welt vor dem Bolschewismus für den Erfolg der Nazis hinwies, schwang sich die gesamte pseudo-linksliberale Ideologenzunft mit Jürgen Habermas an der Spitze wie zu einem letzten Gefecht auf, bei dem sämtlichen vom politisch-korrekten Mainstream abweichenden Ansichten für immer der Garaus gemacht werden sollte.
Felsch bleibt nichts anderes übrig als diesen so genannten »Historikerstreit« noch einmal zu streifen, auch wieder ohne selbst Stellung zu beziehen. Über den Zwergenaufstand kann man in der Rückschau nur staunen, auch über Habermas’ Einpeitscher- und Strippenzieherfunktion, der ständig historische mit politischen und moralischen Argumenten vermengte und sich für einen Fachmann auf dem Gebiet der Geschichtsschreibung hielt.
Der linksliberale Historiker Ernst Nolte war einer, an dem ein Exempel statuiert wurde. Habermas’ Antwort-Artikel, in der Wochenzeitung »Die Zeit« veröffentlicht, trug den ironisch-sarkastischen, passiv-aggressiven Titel Eine Art Schadensabwicklung. Bei Felsch erfahren wir jetzt das aufschlussreiche Detail, dass nicht Noltes zunächst weitgehend unbeachtet gebliebener Aufsatz, sondern Habermas’ polemische Antwort den Auftakt zum Historikerstreit gab.
Man vermisst in Philipp Felschs Monographie eine ideologiekritische Diskursanalyse des Habermasismus. Aber der Leser kann sich seinen eigenen Reim auf das vielfältige Material machen, das hier vorgelegt wird. Zuförderst gilt es eine geradezu machiavellistische Fertigkeit zu studieren, wie einer über Jahrzehnte seine als philosophisch-politische Position deklarierte einflussreiche Marktpositionierung behaupten konnte und in der Lage war, auch die absurdesten Theaterwahrheiten öffentlich durchsetzen zu können. Der Historikerstreit ist nur das sichtbarste Beispiel.
Mit Habermas gegen Habermas denken
Habermas‘ Theorien bieten zahlreiche Anhaltspunkte für eine diskursive und rationale Gestaltung der Gesellschaft. In der Bundesrepublik scheitert die Umsetzung seiner Ideen jedoch an der Realität intoleranter Mentalitäten, struktureller Barrieren und populistischer Strömungen. Greift Habermas‘ Modell der »Lebenswelt« zu kurz, um die komplexen Verflechtungen von ökonomischen, politischen und sozialen Faktoren in der Bundesrepublik zu erfassen? Ignoriert die Forderung nach dem herrschaftsfreien Diskurs die Tatsache, dass Machtverhältnisse in allen gesellschaftlichen Bereichen, einschließlich der Diskurse, nicht einfach abgeschaltet werden können? Konzentriert sich Habermas‘ Theorie der Öffentlichkeit zu stark auf die etablierte Zivilgesellschaft und blendet die vielfältigen Formen der politischen Beteiligung in der Bundesrepublik aus (z.B. Social Media, Protestbewegungen)? All diese Fragen darf man erörtern, und Jürgen Habermas hat sich selbst immer wieder kritisch damit befasst.
Philipp Felschs freundliche und unterhaltsame Monographie verschleiert die Tatsache, dass Jürgen Habermas einer von denen ist, die seit Jahrzehnten mitentscheiden, wem diese Republik gehört, wer dort den Mund aufmachen darf und wer nicht. Habermas ist selbst immer einer von denen gewesen, denen dieses Land allein gehörte, und die jeden anderen daraus entfernen konnte, der geistige Ansprüche erheben wollte. Felsch betont immer wieder die Hochschätzung, welche die USA in Habermas’ Denken genießen, wohingegen er mit dem Nachbarn Frankreich und seiner Kultur nicht recht warm wird. Jürgen Habermas wirkt in dieser Monographie durchaus sympathisch, von einer Art angelsächsischem Understatement beseelt, allein es scheint ihm, mit Bismarck zu sprechen, die halbe Flasche Champagner im Blut zu fehlen. So klappt man Felschs unterhaltsames Buch mit dem Gefühl zu, dass vielleicht doch eher Karl Lagerfeld der größte Philosoph der Kriegskindergeneration ist.
Philipp Felsch
Der Philosoph. Habermas und wir.
Propyläen Verlag, Berlin 2024
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Habermas in portrait: The power of theory
In his new monograph Habermas and Us, Philipp Felsch portrays philosopher Jürgen Habermas as an intellectual figurehead of postwar Germany. With his signature narrative flair, Felsch blends biographical details with a critical perspective on Habermas’s influence—from his deliberately dry prose to his controversial role in the Historikerstreit.
A highlight is Felsch’s account of visiting Habermas at his home in Starnberg—a building that itself embodies philosophical understatement. The book also touches on Habermas’s political engagement, from European constitutional debates to positions on civil liberties during the pandemic and Germany’s Ukraine policy.
Felsch does not omit criticism of Habermas’s idea of a discourse free of domination. Structural inequalities—economic divides, media power, and social exclusion—challenge the feasibility of rational, inclusive discourse.
Felsch remains a detached yet sharp-eyed narrator. His book is intelligent, entertaining, and at times ironic—ultimately leaving open the question of whether Habermas was a philosopher of democratic progress or a gatekeeper of the old Federal Republic.





