- Neue Lesart Ibsens
- Publikum als Spiegel
- Bühne der Schatten
- Illusion und Wahrheit
- Schaubühne Berlin: “The Wild Duck,” radically honest
Von Barbara Hoppe.
Ist die schonungslose Wahrheit immer heilsam oder braucht es Lebenslügen um das Zusammenleben zu ermöglichen? 1884 schrieb Henrik Ibsen „Die Wildente“ genau zu diesem Thema – und für den Protagonisten Gregers Werle ist die Antwort klar – die Wahrheit muss ans Licht, koste es, was es wolle. Und in „Die Wildente“ kostet sie das Glück zweier Familien.
Neue Lesart Ibsens
Thomas Ostermeier beschäftigt sich seit über 20 Jahren mit Henrik Ibsen. Im September wird seine Neuinszenierung des Dramas an der Schaubühne zu sehen sein. „‚Die ‚Wildente‘ trage ich seit mindestens sechs, sieben Jahren mit mir herum. Für mich ist das eine Antwort auf ‚Ein Volksfeind‘.“ Jene Inszenierung von 2012, die den Wert der Wahrheit erforscht und die bis heute zum Repertoire der Schaubühne gehört. Mit „Die Wildente“ lenkt der Regisseur nun den Blick auf ein Stück, das selten auf deutschsprachigen Bühnen zu sehen ist – zu Unrecht, wie er findet: „Es hat mich gereizt, gerade dieses Stück zur Geltung zu bringen. Weil es gegen die Mode der Zeit steht – leise, komplex, dialoggetragen“, erklärt er.
Publikum als Spiegel
Doch aktuell ist das Thema allemal. Bereits beim Festival d’Avignon sorgte die Inszenierung für Begeisterung. „Jeden Abend stehende Ovationen – das ist natürlich großartig. Die Zuschauer haben mir wieder gezeigt, wie stark sich Menschen mit dem Thema identifizieren“, berichtet Ostermeier. Immer wieder würden ihm Familiengeheimnisse anvertraut. „Es scheint in vielen Familien ein Bedürfnis zu geben, das Unausgesprochene zu benennen.“ Das sei sehr faszinierend und in dem Konzept der „Radical Honesty“, der radikalen Ehrlichkeit, des US-amerikanischen Psychotherapeuten Brad Blanton habe er sogar ein Buch dazu gefunden. Auch das Thema ‚Fake News“ werde in der Inszenierung zur Sprache kommen. Nicht zuletzt deswegen, weil es in „Ein Volksfeind“ bereits eine große Rolle spielte. „Am besten schaut man sich beide Arbeiten an, denn ich habe das Gefühl, dass sie wie ein gläserner Würfel sind: Zwei Aufführungen, durch die man das Phänomen Wahrheit und Lüge aus unterschiedlichen Perspektiven betrachten kann“, führt der Regisseur aus.
Unterstützt wird Ostermeier erneut von Maja Zade, mit der er seit über 20 Jahren zusammenarbeitet. Gemeinsam haben sie Figuren modernisiert und insbesondere die Rolle der Hedvig gestärkt. Aus dem unsicheren Mädchen ist eine 17-Jährige geworden, „eine selbstbewusstere und erwachsenere Person“, so Ostermeier.
Bühne der Schatten
Viel Arbeit steckt auch im Bühnenbild. Für das Fotostudio, zentraler Schauplatz im Stück, recherchierten er und sein Team akribisch in vielen jener kleinen Berliner Studios, in denen man noch Passfotos oder Verlobungsbilder anfertigen lässt. Auch für die ärmliche Behausung der Familie Ekdal wählte Ostermeier ein realistisches Interieur und widersetzt sich damit bewusst den gängigen Abwehrreflexen des Publikums gegen die Darstellung prekärer Lebensverhältnisse: Auf der einen Seite das gutbürgerliche Heim des reichen Großindustriellen Werle, auf der Rückseite das ärmliche Zuhause der Familie Ekdal, einst selbst wohlhabend, nun vom Wohlwollen Werles abhängig – „Das sind zwei Seiten einer Medaille“, so der Regisseur.
Illusion und Wahrheit
Bleibt die Frage, was das Publikum von dieser Inszenierung mitnehmen soll. „Ich möchte mit der Aufführung eher eine Frage stellen als eine Antwort geben“, sagt Ostermeier. „Wir arrangieren uns alle sehr viel in unserem Leben. Die Frage ist: Brauchen wir diese kleinen Illusionen, um überhaupt durchs Leben zu kommen? Oder zerstören wir unser Glück, wenn wir sie aufdecken?“
| Die Wildente | Regie: Thomas Ostermeier |
| Premiere am 12. September 2025 an der Schaubühne Berlin, Kurfürstendamm 153, 10709 Berlin | Weitere Vorstellungen und Infos unter: www.schaubuehne.de |
Was die Aufführung sehenswert macht:
- Radikale Ehrlichkeit trifft existenzielle Lebenslügen
- Visuelles Bühnenbild zwischen Schatten und Licht
- Selten gespieltes Ibsen-Drama mit neuer Perspektive
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Dieser Artikel erschien ebenfalls in der Kulturbeilage „Berliner Bühnen“ der Berliner Morgenpost, August 2025.
Schaubühne Berlin: “The Wild Duck,” radically honest
Is truth always healing, or do life-lies enable coexistence? Henrik Ibsen’s “The Wild Duck” poses this question, radically staged by Thomas Ostermeier at Berlin’s Schaubühne. After years of engaging with Ibsen’s work, Ostermeier returns this rarely performed drama to the stage, focusing on complexity and subtlety. The production, acclaimed at the Festival d’Avignon, reflects today’s urge for openness in families and interweaves “Radical Honesty” and “Fake News.“ With Maja Zade, the characters are modernized; Hedvig now appears as a confident 17-year-old. The stage design clearly separates affluence from poverty and highlights Berlin’s unique flair. Ostermeier’s central question remains: Are small illusions necessary for happiness, or does truthful honesty destroy our lives? The show doesn’t offer answers but encourages reflection and frames Ibsen’s text as a mirror of social and family dynamics





