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„Falstaff“ Unter den Linden: Große Musik, schwache Regie

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An dieser Komödie von 1893 haben wir noch immer zu knabbern: Mit Falstaff katapultierte der Komponist die musikalische Komödie ins Zwanzigste Jahrhundert. Der vielseitige Kapellmeister Giuseppe Mentuccia verwandelte Unter den Linden mithilfe des raffinierten Stücks Berlin in die nördlichste Stadt Italiens. Von Stephan Reimertz.

Italienische Energie Unter den Linden

Giuseppe Mentuccia wirkt wie eine leicht verjüngte Miniaturversion von Generalmusikdirektor Christian Thielemann. Der italienische Maestro engagiert sich bekanntlich in Berlin für die Nachwuchsförderung. Er bietet Konzerte für junges Publikum an und leitet das Opernkinderorchester. Er wurde mit einer Arbeit über die Phänomenologie und die musikalische Vision von Sergiu Celibidache promoviert. Unter den Linden bewies der weltweit gefragte Kapellmeister nun mit der Staatskapelle Berlin, dass er die in ihrer Zeit melodisch und rhythmisch völlig neuartige Falstaff-Partitur aus dem ff beherrscht. Ein Alterswerk? Eher eine Jugendoper, geschrieben mit achtzig Jahren.

Falstaff Staatsoper Berlin Volle
Michael Volle (Sir John Falstaff) / Credits: Matthias Baus

Ein Falstaff ohne Esprit

Michael Volle schöpft aus demselben. Als der allseits beliebte und belächelte Schlachtenbummler gebietet er über Abschattierung, Subtilität, Kraft und stimmliches Schelmentum, wie es die einzigartige pikareske Oper erfordert. Leider beruht die ganze Inszenierung auf einem fundamentalen Missverständnis. Ebenso wenig wie man den Ochs im Rosenkavalier als Bauern darstellen kann, handelt es sich bei Falstaff um einen Hinterhofproleten wie in der verfehlten Inszenierung von Mario Martone. Dem italienisches Regisseur fehlt bei diesem Stoff ebenso wie seiner Bühnenbildnerin Margherita Palli jeder Ansatz eines Verständnisses. Sir John Falstaff, der wirklich gelebt haben soll und der durch William Shakespeare Unsterblichkeit erlangte, war ein jovialer und durchtriebener Adeliger voller Humor. Ein Gentleman, über den Shakespeare im König Heinrich IV. sagen lässt, er sei »nicht nur selbst geistreich, sondern auch der Grund dafür, dass andere geistreich« seien.

Nur für Martone und Palli gilt das nicht. In ihrer Inszenierung geht ihnen jeder Geist ab. Verdi selbst nannte den archetypischen Galan einen »Schelm, der alle möglichen Schlechtigkeiten begeht (…), aber auf lustige Art! Er ist ein Typ! Es gibt so vielerlei Typen! Die Oper ist vollständig komisch!« Michael Volle kann den Falstaff noch so gut singen und spielen, der Schwarzwälder Bariton bleibt besonders in den ersten beiden Akten Gefangener einer Inszenierung, die auf die gleiche Hinterhof-Antiästhetik setzt wie schon Martones Neapel-Film vor ein paar Jahren. Für seinen Streifen über Camorra, Freundschaft, Heimkehr und Verrat scheute der Regisseur sich nicht, den Titel eines der ikonischen Filmwerke von Andrej Arsenjewitsch Tarkowskij auszuleihen. Martones Falstaff-Inszenierung freilich hatte bereits im März 2018 Premiere und ging Nostalgia damit um vier Jahre voraus.

Triste Hinterhöfe statt heller Komödie

Die Einöde von Inszenierung und Bühnenbild steht im auffälligen Kontrast zu der abwechslungsreichen orchestralen und sängerischen Ausgestaltung. Mit Verve mischt die Staatskapelle Berlin eine helle Partitur auf, die ihre komischen und romantischen Momente vor allem mit den Tonarten C-Dur, G-Dur und D-Dur sichtbar macht, also einen schieren, direkten Charakter ins Werk setzt, entsprechend der leichten, humorvollen Atmosphäre des Stücks und der komödiantischen Natur Falstaffs und seiner Eskapaden. Dementsprechend hätte die Grundfarbe des Bühnenbilds ein Weiß sein müssen, das vorwiegend durch Lokalfarben kontrastiert wird. Wer als Regisseur oder Bühnenbildner so überhaupt kein Empfinden für eine Musik hat, sollte sie sich zumindest vom Kapellmeister erklären lassen. Was wir in Berlin vorgesetzt bekommen, ist dagegen jenes grünbräunliche Schmutzbeige, das Grundfarbe der eben nicht »grauen« DDR gewesen ist. Was soll das? Im Programmheft wiederum wird uns eine schwarzweiße Bilderstrecke aus Achtundsechzigertagen an der FU Berlin vorgelegt. Was soll das nun seinerseits damit zu tun haben? Das beliebig zusammengeflickte Heftchen bringt zudem ein weder zu den Achtundsechzigern, noch zu Falstaff passendes Foto von Rainer Werner Fassbinder und Hanna Schygulla von 1980. Das alles wirkt vollkommen plan- und ziellos.

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Katharina Kammerloher (Mrs. Meg Page), Michael Volle (Sir John Falstaff), Nadine Sierra (Nannetta), Daniela Barcellona (Mrs. Quickly) / Credits: Matthias Baus

Wenn Regie Berlin erklären will

Martone und Palli wollten offenbar den Berlinern etwas über Berlin mitteilen. Das ist vollkommen in die Hose gegangen. Ein Italiener, der in Deutschland ein Restaurant eröffnet, ist auch besser beraten,  wenn er Pizza und Spaghetti anbietet statt Spätzle, Grünkohl und Sauerbraten. Kontrastierend zum versifften Hinterhof wird uns dann auf der Bühne ein Mini-Swimmingpool zwischen Waschbetonmauern angeboten, wie die DDR-Version eines Bildes von David Hockney. Alles hochnotpeinlich und ohne jedes ästhetische Gefühl.

Verdi gegen die Tristesse der Bilder

Dennoch gelingt es der Deutschen Staatsoper mit ihrer Produktion, ein angemessenes Bild von Giuseppe Verdis letztem und erstaunlichstem Werk zu vermitteln. Das ist vor allem Verdienst der hochmotivierten, ebenso frisch wie genau musizierenden Staatskapelle. Geradezu beiläufig setzten die Musikanten Verdis modulatorische Übergänge um. Dabei handelt es sich hier um höchst ungewöhnliche musikalische Wendungen, entsprechend Falstaffs Unberechenbarkeit. Federleicht, doch sehr bewusst wiederum sind Chromatik und Dissonanzen untergebracht, wie sie der Komponist gezielt für komische Wirkungen einsetzt. Volle-Falstaff bringt seinen opernkomischen Monolog rhythmisch flexibel. Dabei stellt die Partie für jeden Sänger eine Herausforderung dar. Die Stimmführung unterscheidet sich erheblich von jenen früherer Verdi-Opern. Auch die Damen, jede für sich und alle zusammen, Gabriela Scherer, Rosalia Cid, Anna Kussjudit und Rebecka Wallroth erschaffen immer wieder aufs Neue eine Übereinstimmung von Form und Inhalt. Brillant als Sängerinnen und voll Spaß als Komödiantinnen, machen sie selbst das öde Bühnenbild hinter sich vergessen, wobei Kissjudit mit wunderbar gurrendem Mezzo Falstaff umgarnt. Die Kostüme der Frauen des Chores freilich schwanken unentschieden zwischen gothic, punk, bdsm und Black Friday im Kaufhof: Keine Stilentscheidung, weil kein Stil vorhanden.

Das späte Wunder Falstaff

Welch ein Jahr schroffen musikalischen Umbruchs war das, da Tschaikowski seine letzte Karte spielte, die Symphonie Nr. 6 in h-Moll »Pathétique«, Dvořák mit der 9. Symphonie e-Moll op. 95 »Aus der neuen Welt« ein transatlantisches Panorama eröffnete, Humperdinck hingegen mit der vermeintlichen Kinderoper Hänsel und Gretel dem wilhelminischen Publikum ein regressives Konglomerat zumutete und Puccini mit seinem dramma lirico Manon Lescaut ein weiteres rauschhaft-düsteres Drama aufführte, kurz vor seinem weltweiten Durchbruch! Doch von den großen musikalischen Werken dieses Jahres war jenes des ältesten Komponisten mit Abstand das modernste: Die lyrische Komödie Falstaff, bereits Anfang Februar an der Scala uraufgeführt, schlug nicht nur ein neues Kapitel im Leben des damals berühmtesten lebenden Komponisten auf, sondern auch in der Musikgeschichte. Der achtzigjährige Maestro war als einziger bereits im zwanzigsten Jahrhundert angekommen.

staatsoper Berlin falstaff Ensemble
Ensemble / Credits: Matthias Baus

Späte Modernität, klar gespielt

Mentuccia, Staatskapelle und Solisten musizieren gerade die Modernität dieses Werkes unwiderleglich. Der unerhörte kalte Witz der neuen Oper, die geradezu antikische Klarheit der überraschend frischen und fröhlichen Burleske, das ist Jugendlichkeit auf einer höheren Ebene, das ist zugleich reifer Skeptizismus. Der Paduaner Librettist Arrigo Boito und der Komponist aus der Gegend von Parma hatten ein Werk geschaffen, dessen Humor in Italien wohl am ehesten der trockenen, lakonischen und gepfefferten Florentiner beffa nahekommt. Natürlich mokierten sich die beiden jungen Musikanten Mascagni und Puccini über das jugendliche Werk des Altmeisters. Das war berechtigter Neid der Aufstrebenden. Nicht nur Giuseppe Verdi überschattete ihr Schaffen, sondern auch der neue Wagnerianismus, der in den 1890er-Jahren in der italienischen Elite ausgebrochen war. Eine Generation später war Puccini mir Gianni Schicchi freilich genau dort angekommen, wo er Verdi verspottet hatte. Sein Einakter ist ohne die letzte Oper des Altvorderen überhaupt nicht vorstellbar. Interessanterweise serviert er hier dann doch mit O mio babbino caro die große Arie, auf die die Zuhörer den ganzen Abend warten mussten, während Verdi im dritten Akt des Falstaff lediglich ein bisschen Zauberwaldromantik nachliefert, das die Berliner mit magischem Duft musizieren.

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Falstaff
Commedia lirica in drei Akten (1893)
Musik von Giuseppe Verdi
Text von Arrigo Boito nach „The Merry Wives of Windsor“ von William Shakespeare
Musikalische Leitung:
Giuseppe Mentuccia
Staatsoper Unter den Linden
Berlin
Zum Programm

Die Inszenierung in Kürze

  • Musikalisch brillante Staatskapelle und differenzierter Volle-Falstaff
  • Inszenierung mit tristem Hinterhof-Realismus und stilistischer Unschärfe
  • Verdis späte Komödie als modernstes Werk eines Umbruchjahres

„Falstaff“ at the Berlin State Opera: Great music, weak direction

With Falstaff, Verdi catapulted musical comedy into the twentieth century, and Giuseppe Mentuccia briefly turned Berlin’s Unter den Linden into the northernmost city of Italy. The Italian conductor, known in Berlin for his work with young musicians, demonstrates with the Staatskapelle Berlin how firmly he commands Verdi’s innovative score. Michael Volle shapes a nuanced, powerful Falstaff, yet remains trapped in a staging that reduces the title hero to a backyard roughneck and misses the aristocratic, subversive wit of the character.

Set and direction clash with the bright, agile score. Instead of a light world coloured by C, G and D major, the stage is dominated by drab brownish tones and a dreary GDR-style courtyard with a miniature swimming pool. The programme booklet, with its random visual references, adds to the lack of focus.

Musically, however, the performance becomes a triumph. The Staatskapelle delivers Verdi’s modulatory surprises, chromatic detail and dissonances with effortless precision. The female cast combines comic verve with vocal refinement. In this light, Falstaff emerges as the most modern work of 1893: a lyrical comedy of cool wit and clear form, written by an eighty-year-old composer who was already ahead of his time.

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