Die Bayerischen Staatsgemäldesammlungen zeigen mit dem Centre Pompidou eine Ausstellung aus dem Nachlass von Karel Appel. Von Stephan Reimertz
Ein Tsunami frischer Farben flutet München. Die Pinakothek der Moderne zeigt Arbeiten auf Papier eines Meisters der modernen Mischtechnik. In furioser Leichtigkeit steht der niederländische Maler, Graphiker und Bildhauer Karel Appel (Amsterdam 1921 – Zürich 2006) im Gegensatz zu seinem Jütländer Kollegen Asger Jorn und dessen fetter Ölmalerei im ersten Stock, in der Farben und Figuren sich selbst ertränken. Der Betrachter von Appels Werken bemerkt Einfachheit, mag dem Künstler Spontaneität unterstellen. Dabei ist es durchaus im Sinne des Holländers, dass sich der Vorübergehende von den komplexen Mischtechniken keine Rechenschaft ablegt.
Fabelwesen in vermeintlich kindlicher Sicht, Fische und Vielfüßler. Eine Ziege, gezeichnet und gemalt in Kreide und Gouache. Ein Fabelwesen, Tier und Maschine zugleich, in Gouache und Tusche. Die Begegnung des Menschen mit seinem Bruder, dem Tier. Ein Junge mit Fisch. Wer von beiden bestimmt die Bewegung, gibt den Ton an? Ein melancholischer Katzenliebhaber mit seinen beiden Raubtierchen. Zu anderen Wesen, zumal menschlichen, findet der Erschrockene keinen Zugang. Seine Angst vor Menschen ist auch Angst vor anderen Lebewesen. Können die beiden Katzen sie besänftigen, wo sie doch selbst voll Angst sind und ihrem menschlichen Freund mehr Furcht als Geborgenheit bereiten?
Das Gemalte beansprucht sein Lebensrecht wie das Lebende
Eine dicke Katze in Rot, Grün und Gelb, gezeichnet in Kreide, gemalt in Gouache und Öl. Skizzenhaft und doch monumental wie das vorläufige Leben der Nachkriegsmenschen zwischen Trümmern. Drei Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg hat sie sich, so scheint es, wieder im Leben, in der Zufriedenheit eingerichtet. Man hört sie geradezu schnurren. Eine Amphibie besonderer Art ist das »Animal No. 24«. Fisch? Vogel? Mensch? Sind es Beine, sind es Fühler? Sind es Flügel, sind es Flossen? Alles ist offen, könnte offen sein, wenn der Mensch und mit ihm das Tier sich neu erfinden könnten. Sie geben sich eine Zeitlang der Illusion der Freiheit hin. Bald schon werden sie wieder in den alten Formen erstarren.
Kraft und Vitalität sind dem Kunstwerk für die Ewigkeit gegeben, dem Künstler und seinen Geschöpfen für den Moment. Appel ist sich dessen bewusst und versucht, das Entsetzen vor dem Tod zu gestalten, das einen im Leben ergreift. Seine Tiere wissen es, im Gegensatz zu denen von Franz Marc, die in todlosem Gleichmut, im Sein leben. Im Werk des Niederländers erkämpfen sich Mensch und Tier für einen Moment ihr wackliges, jederzeit kündbares Dasein. Allen Schwung, zu dem sie fähig sind, legen sie in den Augenblick.
Karel Appel kennt keine Karikatur, keinen Hohn
Nicht das Kalkulierte stößt hier die Kunst an die Grenze der Gegenständlichkeit, sondern das Wilde dieses Malers, sein oft zentrifugaler Strich. Er bringt ein Aquarium von Archetypen ans Licht, die noch nie ein Auge sah. Unbelebte Materie, Mondrianismus, sind ihm undenkbar, obgleich sie sich in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg, aus denen fast alle gezeigten Exponate stammen, größter Beliebtheit erfreuten und aus der Bildenden Kunst in die Architektur durchschlugen. Man wollte jene Geister bannen, von denen Appel nicht anders kann, als sie herauszulassen: Unberechenbares Leben, infiziert mit dem Todeskeim. Sogar Appels Architekturen sind organisch, ja keimig.
Gräser oder nicht mehr identifizierbare Lebewesen. Letztere nennt der Künstler, eine Koryphäe der Bildtitelgebung, »Ohne Titel«. Wie alles schauert, bebt und zuckt in sündigem Verlangen! Vor allem in sinnlosem. Das Wort Sexualität wäre viel zu beschwichtigend für solchen verdammten Zeugungswillen. Das ist das Paradox dieser Bilder: Das zum momentanen, bald sterbenden Verdammte ist in der Ewigkeit der Kunst aufgehoben.
Geboren um zu sterben
Der Künstler führt nicht das Leben ad absurdum, bei ihm beginnt es schon ex absurde. Wir wohnen einer Schöpfung bei, ihr Ende schon in Sicht. Das ist hier, einige Momente nach dem animalischen Urknall, noch nicht eingetreten. Doch der Künstler lässt keinen Zweifel daran, dass es wieder geschehen wird. Alles wird zu seinem Tode erstarren. Aber hier, bei Karel Appel und seiner Menagerie, kann man die Welt noch in ihrer zum Ulk aufgelegten Jugendlichkeit erleben, deren tragische Versatzstücke allerdings schon aus den Rändern treten. Die Frustration kommt schnell. Auf einer Mischtechnik in Gouache, Tempera und Bleistift zeigt sich von Gesichtern nicht viel. Aber man erkennt den hohlen Blick des Enttäuschten und den leeren des Totenschädels. Appels Sicht auf die Illusion der Freude kennt keine Gnade. Seine Brillanz aber macht Freude.
Das Papier gewinnt als Bildträger, und Appel verwendet es in verschiedenen Qualitäten. Seine Liebe zum Material gleicht jener erotischen Besessenheit, die er ohne Unterlass vorführt. Mit einfachsten Mitteln differenziert Appel Zwischentöne, wie in den »Fragenden Kindern« von 1949, in Farbkreide auf Papier in zwei entgegengesetzten Ausführungen. Trotz starker Farben, die sich den Lokalfarben nähern, wird nur ein Kind sie für Kinderzeichnungen halten. Hier enthüllt sich auch im Bildtitel, dass alle Wesen Appels Fragen sind, die in die Welt geworfen und die sterben werden, bevor sie jemand beantwortet. »Kopf und Körper«, 1949 in Gouache und Kreide auf Papier ausgeführt, zeigt den Menschen als Kind und Homunkulus. Jedes Wesen ist ein Perpetuum Mobile. Wille ohne Sinn, Wiederkehr des Gleichen, ewig, unentrinnbar und mit aller Kraft gelebt. Karel Appels Werk ist ein Triumph der Kunst über den Tod.
Karel Appel – Werke auf Papier
Ausstellung bis zum 17. April 2016
Ausstellungskatalog: Karel Appel – Werke auf Papier
Pinakothek der Moderne
Barer Straße 40
80333 München
Öffnungszeiten:
Täglich außer Montag: 10.00 bis 18.00
Donnerstag: 10.00 bis 20.00
10 Euro/7 Euro
Dr. Stephan Reimertz, geb. 1962 in Aachen, ist als Kunsthistoriker ein typisches Produkt der strukturanalytischen Schule von Hans Sedlmayr in München. Seine philosophischen Lehrer waren u. a. Stephan Otto, Rudolf Schottlaender, Robert Spaemann und Wolfgang Stegmüller. Seine Musiklehrer waren Gerhardt Schroth (Klavier) und Sergiu Celibidache (Dirigieren und Musikphänomenologie).
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