Alceste von Christoph Willibald Gluck in der Pariser Fassung am Bayerischen Nationaltheater. Von Stephan Reimertz.
Wenn einer für einen anderen oder für die Gemeinschaft sein Leben opfert, sind Liebe und Bewunderung ihm für alle Zeiten sicher. Kein Wunder, wenn diese relativ einfache Art, in die Geschichte einzugehen, sich großer Beliebtheit erfreut. Selten mangelt es an Kandidaten, die zu einem solchen Opfer bereit sind. Ob Graf Stauffenberg, Sophie Scholl oder Jesus Christus; immer neue Selbstopfer nötigen uns Bewunderung in Ewigkeit ab. Als Modell aufopfernder Gattenliebe erscheint uns Leonore aus der gleichnamigen Oper von Beethoven, die später Fidelio genannt wurde. Allein dieses Bühnenweihfestspiel besitzt zahlreiche Vorgänger. Die Musikgeschichte kennt ein gutes Dutzend Vertonungen des Alkestis-Mythos, darunter die Versionen von Lully und Händel. 1787 wurde die Fassung von Christoph Willibald Gluck in Wien in italienischer Sprache uraufgeführt. Neun Jahre später stellte der Komponist seine für die französische Bühne umgearbeitete Version in Paris vor. Für diese Variante und damit für die französische Sprache, entschied sich nun die Staatsoper München in ihrer neuen, unspektakulären Produktion des Werkes, das soeben im Nationaltheater seine Premiere erlebte. Die Zuschauer reagierten begeistert auf die aufwühlende Aufführung. Allerdings waren manche Musikfreunde vom Ballett genervt.
Eine Primadonna Assoluta
Wie schön wieder einmal eine absolute Primadonna zu erleben! Dorothea Röschmann in der Titelrolle beherrschte die Aufführung szenisch und stimmlich. Es ist erstaunlich, wie die Sopranistin bisher ihren Arbeitsschwerpunkt bei Monteverdi, Bach und Mozart fand, wo doch ihr gewaltiges, durchschlagendes, an den Rändern etwas hartes Organ sich mit Bravour in der Grand Opéra des neunzehnten Jahrhunderts bewähren würde. Als Alceste besitzt sie die Würde und Größe, die dieser Figur gemäß ist. Leider verpasste Kostümbildner Jan-Jan Van Essche ihr Gewänder von beschränktem Reiz, wobei besonders die Beinkleider sich als Peinkleider erwiesen. Seit fast dreißig Jahren schreibe ich neben Opern- und Ballettkritiken auch Mode-Artikel und leide nicht nur an der Art und Weise, wie Frauen auf der Straße angezogen sind, sondern auch unter Opernkostümen und Konzertkleidern. Bei der neuen Alceste-Produktion konnte sich zudem kein Besucher einen Reim darauf machen, warum die Protagonisten dieser ursprünglich italienischen, in Wien uraufgeführten, nach Paris transponierten Oper über den griechischen Mythos in orientaloiden Gewändern einherspazierten. Eine geistesgeschichtliche oder dramaturgische Begründung sucht man für diesen Dreh vergebens. Allerdings könnte man in den Kopfbedeckungen und Pumphosen der Herren einen Anhaltspunkt dafür finden, wie unsere mohammedanischen Mitbürger sich anziehen sollten, wenn sie schon von ihren Frauen verlangen, im Kopftuch einherzuschreiten.
Gluck als Komponist der sympátheia
Charles Castronova bot ebenfalls stimmliche und darstellerische Größe, als er sich als königlicher Ehemann Admète mit seiner Gattin darum stritt, wer von ihnen sich für den anderen opfern dürfe. Kapellmeister Antonello Manaconda und das Bayerische Staatsorchester freilich heimsten am Ende den lautesten Applaus ein. Ihnen gelingt es, eine Musik zu vergegenwärtigen, der man banale Stellen nicht ganz absprechen kann, die jedoch im Ausdruck von Würde, Größe und Klarheit ihresgleichen sucht. Christoph Willibald Gluck ist der Komponist der Versöhnung, der Gnade, der Rührung und des Mitleids, und er vermag diese in einem musikalischen Reiz und einer Einfachheit auszudrücken, dass man seinen Namen neben Händel und Mozart nennen möchte.
Barocke Hochkultur in evangelischer Abstraktion
Ballett wird störend oft empfunden,
dieweil’s mit Hampelei verbunden.
Willy Bush
Der Neandertaler hatte nicht nur ein Witzbuch, sondern auch ein Regiebuch. Sidi Labri Cherkaoni schien aus den sechziger Jahren wiederauferstanden zu sein. Er zeichnet für Regie und Ballett-Choreographie verantwortlich und brachte seine Tanztruppe – die Compagnie Eastman – gleich aus seiner Heimatstadt Antwerpen mit. Cherkaoni ist der Pontius Pilates des heutigen Tanztheaters. Seine clava hampelorum wäre ballettgeschichtlich irgendwo zwischen Martha Graham und Eurythmie anzusiedeln. Die um die Münchner St. Anna-Kirche herumsitzenden Latte Macchiato trinkenden Mütter, die ihre Kinder mit dem Auto in die Hampelklasse kutschieren und selbst eine Bobo-Bewegungsgruppe besuchen, finden in der sinnlosen Strampel-
veranstaltung einen neuen Bezugspunkt. Etwas weniger nervt der dritte und letzte Akt, wo die Darsteller aus Antwerpen auf Stelzen die Geschöpfe der Unterwelt mimen. Das Bühnenbild von Henrik Ahr versetzt uns mit monochromen und vor allem monotonen Flächen in die Stadttheaterkultur der sechziger und siebziger Jahre in Deutschland. Ich bin sicher, Regisseur und Bühnenbildner glauben, uns mit dieser Abstraktion etwas total Modernes vorgesetzt zu haben. Jedwede Vorstellung der barocken Hochkultur geht diesen Künstlern vollkommen ab. Etwas mehr visuelle Vorstellungskraft hätten wir Zuschauer uns schon gewünscht. Man sollte diese Aufführung unbedingt besuchen, um Glucks wunderbare Musik zu hören, am besten mit geschlossenen Augen.
Alceste
Alle Termine hier
Nationaltheater München
Max-Joseph-Platz 2
80539 München
Bei Verwendung des Textes bitte Quelle angeben bzw. verlinken