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„Alice im Wunderland“ in München: Hölle der Aufziehvögel

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Von Stephan Reimertz.

Eine apologetisch-affirmative Ballettversion von »Alice im Wunderland«, 2011 im Covent Garden uraufgeführt, läuft nun wieder an der Bayerischen Staatsoper. Passt das angloamerikanische Implantat in unsere Kultur?

Es gibt Kinderbücher, die man auch als Erwachsener noch einmal liest und die erst dann ihr volle literarische Wirkung entfalten, wie z. B. »Ruslan und Ludmilla« von Aleksandr Puschkin, »Mio, mein Mio« von Astrid Lindgren oder »Krabat« von Otfried Preußler. Es gibt aber auch Bücher, die sich weder für die Lektüre von Kindern noch von Erwachsenen eignen, weil sie in geistigem Leerlauf lediglich den Jargon und die Äfferei von Bedeutung vorführen und im Grunde weder kleinen noch großen Lesern etwas zu bieten haben, etwa »Der kleine Prinz« von Antoine de Saint-Exupéry, »Harry Potter« von J. K. Rowling und »Alice’s Adventures in Wonderland« von Lewis Carroll. Letztere beiden Erzeugnisse wurden als vorauseilende Ehrenrettung gern der literarischen Postmoderne zugeordnet. Kein Wunder, wenn sie sich bei Autoren, welche sich selbst dieser Richtung zugehörig fühlen, angelegentlicher Beliebtheit erfreuen. So hat etwa Vladimir Nabokov eine russische Übersetzung der »Alice« angefertigt. Als diese nach 1990 auch in Russland zu haben war, sorgte dort die Tatsache für einigen Spott, dass Alice hier Anja heißt. Die erste russische Übersetzung war übrigens bereits 1879 in Moskau erschienen. Hier hieß Alice Sonja…

Gnadenlos optimistische Weltsicht

Wer seinen lieben Kleinen wirklich etwas Gutes tun will, der halte sich indes am besten an den »Zauberer der Smaragdenstadt« von Alexander Woklow, »Onkel Fjodor, eine Katze und ein Hund« von Eduard Uspenskij, an die »Dunno«-Serie von Nikolaj Nosow oder am besten gleich an Aleksandr Puschkins Märchen vom Zar Saltan. Gesetzt den Fall man hält überhaupt Kinderbücher für sinnvoll. Es soll ja Siebenjährige geben, welche diese Phase überspringen und gleich Gogol, Cooper und Stevenson lesen.

In vorösterlicher Einmütigkeit jedoch strömen jetzt Paare und Familien in die Bayerische Staatsoper, um Alice in ihrem choreographischen Wunderland zu sehen. Die überaus typische Produktion hat bereits 2011 am Royal Opera House in London als Auftragswerk des Royal Ballet in Koproduktion mit den National Ballet of Canada und in München Anfang April 2017 das Licht der Welt erblickt. Überaus typisch ist die Produktion für den Covent Garden, weil in London traditionell versucht wird, stets auch ein breiteres, konsumistisch gestimmtes Publikum anzusprechen, welches sich deutlich etwa vom deutschen Bildungsbürgertum unterscheidet, man denke nur an die ewig laufende Bohème-Produktion von Richard Jones oder die Altinszenierung der Madama Butterfly von Regisseur Anthony Minghella, die 2005 in London Premiere beging und anschließend nach New York und Wien exportiert wurde. In vordergründig musicalhaften Inszenierungen feiert die angloamerikanische Welt zunächst sich selbst, um sodann auch uns mit ihrer optimistischen Weltsicht zu beglücken.

Insularer vs. kontinentaler Surréalismus

Der europäische Surréalismus wollte vor allem den Determinismus der kapitalistischen Konsumgesellschaft aufsprengen, infolgedessen standen seine künstlerischen Protagonisten dem Anarchismus wie dem Kommunismus nahe. Das assoziative Bilderprasseln des Warenwunderlands jedoch, die Tier- und Kartenspielmetaphorik, die immer wieder neuen und immer wieder beliebigen Bühnenbilder einer tautologischen Phantasie, die wir in dieser Ballettversion von »Alice im Wunderland« sehen müssen, sind keine Pathosformeln im Sinne von Aby Warburg, also Haltungen und Gesten, die jahrtausendealte spezifische Bedeutungen aufgespeichert haben, es sind vielmehr Leeformel im Sinne Nietzsches: »Ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen, kurz eine Summe von menschlichen Relationen, die, poetisch und rhetorisch gesteigert, übertragen, geschmückt wurden und die nach langem Gebrauch einem Volke fest, kanonisch und verbindlich dünken: die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, dass sie welche sind, Metaphern, die abgenutzt und sinnlich kraftlos geworden sind, Münzen, die ihr Bild verloren haben und nun als Metall, nicht mehr als Münzen, in Betracht kommen.«

Erzählballett als genüsslich abgefeierter Warenfetischismus

Man kann sagen, dass Choreograph Christopher Wheeldon und Komponist Joby Talbot das Buch durchaus richtig verstehen. Ihre Tanzversion drückt der Geschichte von Alice im Wunderland nicht etwa eine wesensfremde Interpretation auf, sondern setzt die unentrinnbare Tautologie des vermeintlichen Kinderbuchs, die Spielhölle aus dem Gehirn eines perversen Mathematiklehrers, in kongeniale, also überraschend angemessene, Bilder um. Dabei steht die ganze Zeit über die Entscheidung im Raum, ob die aufwendige Theaterversion dem Text gegenüber ein kritisches, enthüllendes Moment enthalten soll, oder ob das Ganze rein affirmativ gemeint ist. Ich gestehe, dass ich diese Frage im Laufe des dreistündigen Ballettabends nicht entscheiden konnte. In Deutschland, dem Ursprungsland des modernen Tanztheaters, mit einer Produktion ohne kritische, gegenläufige Sekundärfunktion aufzuwarten, muss allerdings schon als dreist und naiv betrachtet werden. Natürlich können die tanzen. Und selbstverständlich ist die Exekution kunstvoll, aber das Ganze ist kein Kunstwerk, sondern ein Kunststück, einer Hölle, die zugleich putzig und gierig ist und die wie in der Romanserie »Harry Potter« vor allem überdeutlich neokapitalistische Gier verrät und einen verspäteter, in die Kultursphäre sublimierten Thatcherismus.

Zauberlegende ohne Zauber

Die Frage ist, ob in der getanzten Theaterversion eine verborgene Qualität der Textvorlage offenbart wird. So ist die ganze Zeit vom Zauberhaften die Rede, nur der Zauber selbst fehlt, ähnlich wie bei der kommerziellen Romanserie »Harry Potter«. Ein ähnliches neokapitalistisches Spießertum wird in dem Warenfetischismus der Inszenierung deutlich wie in jenen aufwendigen durch Spezialagenturen organisierten Eventhochzeiten, die sich in der Folge als Belastung nicht nur des Budgets, sondern der ganzen Ehe erweisen. So erzeugt das stundenlange Ballett ein ähnliches Gefühl wie ein Streifzug durch eine amerikanische oder asiatische Shopping Mall; jene zugleich depressive und manische Stimmung, wie sie bei Bipolaren besonders gefürchtet ist.

Natürlich kann Alices Reise durch das Wunderland auch als Metapher für das Spiegelstadium nach Jacques Lacan gesehen werden. Im Spiegelstadium erkennt sich das Kind zum ersten Mal als Ganzes und identifiziert sich mit seinem Spiegelbild. Alices ständige Vergrößerung und Verkleinerung kann als Darstellung der Verwirrung und Unsicherheit interpretiert werden, die mit dieser Identitätsbildung einhergeht. Madison Young tanzt die rolle mit dem frischen Charme und zugleich der Vieldeutigkeit, die hier allein angemessen ist. Die vielen seltsamen und bedrohlichen Figuren im Wunderland wurden als Repräsentationen von Alices unbewussten Ängsten und Wünschen interpretiert. Die Raupe, die Alice Ratschläge gibt, (Vladislav Kotzlov) kann als eine Mutterfigur gesehen werden, während die Herzkönigin (Elvine Ebraimova), die Alice köpfen will, eine autoritäre Vaterfigur repräsentieren kann.

Die Reise durch das Wunderland kann auch als Suche nach dem Selbst verstanden werden. Sie trifft auf viele verschiedene Charaktere, die alle unterschiedliche Aspekte ihrer Persönlichkeit repräsentieren könnten. Am Ende der Geschichte findet Alice ihren Weg zurück nach Hause, was als Symbol für die Integration ihrer Persönlichkeit und die Erlangung eines stabilen Selbstbildes gesehen werden kann.

Tautologisch-kapitalistischer Fiebertraum

Das Wunderland kann als Darstellung des Unbewussten angesehen werden, mit all seinen bizarren und unheimlichen Inhalten. Die Geschichte kann auch als eine Art Traumarbeit aufgefasst werden, in der Alice ihre Ängste und Wünsche verarbeitet. Und nicht zuletzt sollte das Thema der Regression in Rechnung gestellt werden: Alices Reise ins Wunderland kann als ein Rückschritt in die Kindheit gesehen werden, in der sie die Welt neu entdecken und ihre Identität neu erfinden kann.

Die warenfetischistische Ballettversion, die wir in München vorgesetzt bekommen, trägt allerdings ausschließlich dem Charakter der Regression Rechnung. Man muss sich fragen, ob sich eine Opernleitung nicht vorher überlegen sollte, was sie ihren Gästen anbietet, zumal wenn die Produktion bereits an einem anderen Haus zu sehen war. Die tautologische, sich wie ein perpetuum mobile steht um sich selbst drehende Gebrauchsmusik, die Joby Talbot für diese Veranstaltung fabriziert hat, ist eine Fahrstuhlmusik, die auch zur Anpreisung von Industrieprodukten dienen könnte, und mit etwas anderem haben wir es hier ja auch nicht zu tun.

Christopher Wheeldons Choreographie besteht aus dem Figuren- und Bewegungsrepertoire des klassischen Balletts, die hier im Maßstab 1 : 1 eingefügt werden, ohne sie durch ein gegenläufiges Element zu relativieren und dadurch dem klassischen Bewegungsrepertoire eine kritische Form zu eröffnen. Mit Adorno zu sprechen: »Veraltet ist stets nur was mißlang, das gebrochene Versprechen eines Neuen.« Oder ganz simpel ausgedrückt: Wir haben es hier sowohl mit reinem Kitsch zu tun als auch mit zwanghafter und steriler Fröhlichkeit ebenso wie mit schriller outrierter Witzigkeit. Solcherlei Eventkultur passt besser in Musicalunternehmen privater Veranstalter als in ein Staatstheater. Der überlange Ballettabend fällt in die Kategorie „Ausklang eines Shopping-Nachmittags auf der Maximilianstraße“. In der Staatsoper kommt es gelegentlich zu solchen Effekten. Das Erstaunliche daran ist, dass sie als Avantgarde ausgegeben werden. Und das setzt man uns mitten in Deutschland vor, dem Ursprungsland des modernen Tanztheaters von Rudolf von Laban und Kurt Jooss über Pina Bausch bis zu Martin Schläpfer, nicht zu reden von den vielen internationalen Tanztheaterschöpfern, die aus aller Welt nach Deutschland kamen, weil sie dieses Land als die Heimat des modernen Tanzes betrachteten, wie Mary Wigman, Tatjana Gsovsky, John Cranko, John Neumeier, William Forsythe u. v. a.

(Mit dem Titel seines Aufsatzes spielt unser Rezensent auf das Gemälde »Hölle der Vögel« von Max Beckmann an [1938, Privatbesitz].)

Bayerisches Staatsballett
Max-Joseph-Platz 2
80539 München
alle Vorstellungen hier

„Alice in Wonderland“ in Munich: Hell of the Wind-Up Birds
A ballet version of „Alice in Wonderland,“ premiered in 2011 at Covent Garden and now showing at the Bavarian State Opera, raises the question: Does this Anglo-American work fit into our culture?

There are children’s books that also fascinate adults, such as „Ruslan and Ludmilla“ by Aleksandr Pushkin or „Krabat“ by Otfried Preußler. Other books like „The Little Prince“ by Antoine de Saint-Exupéry or „Harry Potter“ by J.K. Rowling may be more superficial. The latter were appreciated in the literary postmodern era, gaining popularity among authors of that genre. „Alice’s Adventures in Wonderland“ by Lewis Carroll belongs to this category. Vladimir Nabokov translated it into Russian, which led to mockery in Russia, where Alice became Anja. The production is now enjoying great popularity at the Bavarian State Opera.

Optimistic worldview without depth

Works like „The Wizard of the Emerald City“ or „Uncle Fyodor, a Cat, and a Dog“ are more suitable for children. Some children even skip the phase of children’s books and read more challenging literature. Nevertheless, people flock to the opera to see Alice in her wonderland. This production is typical of London, where a broader, consumer-oriented audience is targeted. The ballet celebrates the Anglo-American world and tries to convey its optimistic worldview to us.

Insular versus continental surrealism

European surrealism aimed to break the determinism of capitalist society. However, the interpretation of „Alice in Wonderland“ in this ballet version lacks depth. Christopher Wheeldon and Joby Talbot understand the book well, but the staging is rather superficial and reminiscent of commercial events. The production contributes little to the quality of the original text and rather presents a regressive fever dream.

Magic without enchantment

Wonderland represents the unconscious with all its bizarre contents. However, the staging lacks magic and offers only superficial commodity fetishism. The choreography is classical without critical reflection. The production falls more into the category of kitschy event culture than high-quality dance theater.

Overall, this ballet version disappoints and does not fit into the cultural depth of Germany as the birthplace of modern dance theater.

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