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August von Platen: Venedig – nur noch im Land der Träume

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Literatur

Vor zweihundert Jahren erschien der Sonettzyklus Venedig von Graf August von Platen, ein Sieg der Kunst und der Klassizität über düstere Zeiten. Von Stephan Reimertz.

Wer Platens Sonettzyklus zur Hand nimmt, staunt über die Grandezza der Eröffnung; ein Cinemascope-Panorama, in dem sich dem Besucher die Stadt präsentiert und »aus der Flut Palladios Tempel steigen«. Denn vom Meer kommend reist er an; mitnichten existierte in jenen Tagen die Stazione Venezia Santa Lucia, heute täglich Zeugin heftigen Herzklopfens und Ort einer ersten Schandgalerie internationaler Modeketten. Der Bahnhof wurde erst in den für ganz Europa eisenbahnbrechenden Jahren 1860/61 eröffnet. Es ist interessant, dass auch Thomas Mann seinen Helden zögern lässt, bevor er seinen Fuß nach Venedig lenkt und ihn in Pula, damals Pola, einem retardierenden Moment überantwortet. Gustav von Aschenbach freilich korrigiert sich gleich: »Was sollte er hier? Er war fehlgegangen. Dorthin hatte er reisen wollen.« Man tritt in die ins Meer gestellte Stadt eben nicht ohne Zögern ein, dessen ist sich auch Platen inne, der »nicht ohne Furcht und Zagen« die ungewöhnlichste der Städte betritt und angesichts des Markusplatzes fragt: »Soll ich ihn wirklich zu betreten wagen?«

August von Platen Canaletto
Canaletto: Riva degli Schiavoni, Venedig. 1724/30. Wien, Kunsthistorisches Museum Foto: Stephan Reimertz

I

August von Platen oder Karl August Georg Maximilian Graf von Platen-Hallermünde, wie amtlich sein Name lautete, war Spross eines ursprünglich norddeutschen, bis heute in seinem reichsgräflichen wie seinem freiherrlichen Zweige bestehenden Geschlechtes. So bedenklich der Klassizismus dieses Dichters sowohl Goethe wie auch, aus entgegengesetzten Gründen, Heine schien, so zukunftsweisend und unverzichtbar zeigt sich dieser Zug seines Wesens und Werkes späteren Geschlechtern. Stefan Georges Erscheinung ist ohne dieses Vorbild nicht in all ihren Zügen vorstellbar. Uns wiederum ist die Leichtigkeit seiner formalen Vollendung ebenso bewunderungswürdig wie die Vielfalt seiner geistigen Interessen und die Zwanglosigkeit, mit der er seine dichterischen Fühler namentlich nach Osten ausstreckte. Platens Belebung des Ghasels für die abendländische Dichtung beispielsweise profitierte zugleich mit Goethe, der in jenen Jahren am Diwan dichtete, von den Arbeiten des österreichischen Orientalisten Hammer-Purgstall, besonders von dessen sechsbändigen Fundgruben des Orients und seiner 1812/13 erschienenen zweibändigen Hafis-Übersetzung. Friedrich Rückerts Anthologie Oestliche Rosen, ohne das Vorbild des persischen Dichters Hafis ebensowenig denkbar wie Goethes Diwan, erschien 1822. Graf Platen befand sich mit seinen orientalischen Nach- und Neudichtungen inmitten eines neuen, kosmopolitischen, weit in den Osten ausgreifenden Zeitgeistes. Aus jenen Jahren, in denen ins Deutsche mehr übersetzt wurde als in jede andere Sprache, datiert unsere enge Beziehung zur jahrtausendealten persischen Hochkultur. Die Bundesrepublik Deutschland ist heute Irans engster Handelspartner. Waren die kulturellen Präliminarien dafür gänzlich unbedeutend?

II

Neben Rückerts und Goethes Phantasieformulierungen des persischen Ostens kann die Version Platens als eine durchaus eigenständige stehen. Der geradezu zentrifugalen Allbegabung Friedrich Rückerts steht Platen als folgerichtiger und disziplinierter Weltreisender des Geistes gegenüber; zwei poetische Weltfranken, der Schweinfurter auf dem fliegenden Teppich, der Ansbacher Gardeoffizier zu Pferde und in der Kutsche, geraten zugleich mit dem zu dieser Zeit noch lebenden Nationaldichter in die flirrende »Patriarchenluft« des Orients. Die Islamisierung Deutschlands vollzog sich im Geiste der Weltläufigkeit, erschien also ganz entgegengesetzten Sinnes zur heutigen. Goethe brachte gerade in jenen Jahren den Begriff der »Weltliteratur« auf. Die multiperspektivische Übersetzertätigkeit in der deutschen Literatur jener Jahre entsprach der multipolaren Welt in all ihrer kulturellen Vielfalt, wie sie sich damals entfaltete. Von einer monokulturellen Weltherrschaft, etwa jener Napoleons, von der man sich gerade befreit hatte, wollte man nichts wissen. Gerade weil Platens unruhiger Geist so gern weltausgreifend einmal hierhin, einmal dahin flog, sind die Disziplin, Beschränkung, Noblesse, Natürlichkeit und Distinktion vieler seiner Dichtungen zu bewundern. Die Sonette aus Venedig, 1825 erschienen, bilden einen der Höhepunkte von Platens Lyrik. Sie enthalten zudem ein verborgenes Drama der Homosexualität und sind zusammen mit anderen Kunstwerken geeignet, diese edle und kulturell so fruchtbare Veranlagung dem politischen Missbrauch zu entreißen, der ihr derzeit angetan wird, und sie wieder in ihren angestammten philosophischen und ästhetischen Zusammenhang zu stellen.

III

Graf Platen war Künstler durchaus im Sinne des Artisten. In seinem Schaffen verband er die Strenge der Form mit der Leidenschaft des Empfindens. Er suchte im Gedicht nicht Ausdruck allein, sondern Vollendung. Der Reim war ihm nicht Werkzeug, sondern Gesetz, die Schönheit nicht Zierde, sondern Moral. In einer Zeit des politischen und ästhetischen Umbruchs hielt er fest an der Idee einer reinen, edlen Kunst, die über das Alltägliche hinausweist. Seine Verse sind Spiegel einer aristokratischen Seele, die das Ideale höher achtet als das Leben selbst, und die im Glanz der Sprache jene Freiheit sucht, die ihr die Gesellschaft verweigert. Platen war ein Meister der formalen Virtuosität. Er beherrschte eine erstaunliche Vielfalt metrischer und strophischer Formen, die er mit klassischer Strenge und musikalischer Präzision ausgestaltete. Er perfektionierte das italienische, insbesondere petrarkische Sonett im Deutschen. Seine Sonette gelten als Musterbeispiele klassischer Formklarheit. In Anlehnung an antike und horazische Vorbilder nutzte er die Hymne mit regelmäßigen Strophenmaßen (z. B. sapphische oder asklepiadeische Ode), um feierliche, idealistische Themen zu gestalten. Hier berührt er sich mit dem ihm sonst fremden Friedrich Hölderlin in dessen mittlerer Schaffensphase. Gerühmt wurde Platen für seine Ghaselen, in denen er die persisch-arabische Form im Deutschen spiegelte. Sie zeichnen sich durch fortlaufenden Reim und lyrisch-musikalischen Klang aus. Nach antikem Muster meisterte er zudem die Elegie. In Anlehnung an Dante und die italienische Dichtung liebte Platen auch Reflexions- und Reisedichtung. Er griff auf französische und populäre Prägungen wie Rondel und andere Liedformen zurück, wobei er stets auf metrische Reinheit und klangliche Balance achtete. Platen zeigt sich als einer der größten metrisch-syntaktischen Virtuosen des Deutschen. Seine formale Strenge grenzt ihn zudem von der Romantik ab. Ein Sonderfall sind seine nicht wenigen Theaterstücke. Die verhängnisvolle Gabel beispielsweise, kurz nach den Venezianischen Sonetten gedichtet, erweist sich als Komödie, die überraschenden Esprit in konsequent durchgehaltenen langen Blankversen vorträgt. Man ist versucht, von voltarianischem Klassizismus zu sprechen, auch wenn die Bemühungen gelegentlich nach Gymnasialulk klingen, so dass der Leser versucht ist, dem Dichter einen Vers aus seinem eigenen Stück entgegenzuhalten: »Du vergeudest die Zeit zur Goldmacherei, statt wirkliche Schätze zu heben!«

IV

Wir haben es also mit einem frühen Peter Hacks zu tun, der anstelle der DDR das Deutschland Metternichs seinem hochklassischen Spott aussetzt. In den Sonetten aus Venedig dagegen wird die Dichtung der Kunst zur höchsten Kunst der Dichtung. In der Akademiegalerie tritt der Graf vor Tizians gebieterischem Täufer. »Zu Wüste fliehend vor dem Menschenschwarme, / Steht hier Johannes, um zu reinern Sphären / Durch Einsamkeit die Seele zu verklären, / Die hohe, großgestimmte gotteswarne.« Es ist nicht zu überhören, wie der Dichter sich in der Gestalt des Täufers spiegelt, in dem Moment, da er zu seinen Preisliedern der Kunst ansetzt. Der Schelling-Schüler war in zwölf Sprachen zu Hause und ist als poeta doctus der Zeit allenfalls seinem fränkischen Landsmann Rückert oder mit Leopardi zu vergleichen. »Platen hat die Bildung unsers Weltteils und einen Teil dessen was der Orient geschaffen, in sich aufgenommen«, fasst Karl Goedecke den Bildungsgang des Dichters zusammen. Eine historisch-kritische Gesamtausgabe nach modernem editorischen Standard haben die Deutschen ihm, ebenso wie ihrem Nationaldichter, bisher vorenthalten. Dabei wären auch zweitausend Seiten Tagebücher zu entdecken, was Platen wiederum mit seinem prominentesten Nachfolger in der modernen Literatur verbindet. Kunstwerke zeugen sich fort. Ist der Tod in Venedig ohne Platens Venedig-Sonette denkbar? Giorgio Bassanis Brille mit dem Goldrand ohne den Tod in Venedig? Der Meister aus Ferrara hat seine Novelle wohlweislich an den ferraresischen Lido versetzt. Venezianisch bleibt sie gleichwohl.

V

Platen gewahrt in Venedig »Alpen, die in weiten Bogen / Auf die Laguneninsel niederschauen«. Tatsächlich kann man von Venedig aus die Alpen sehen. Herrscht klare Luft, sieht man von höheren Punkten wie z. B. dem Campanile der Markuskirche, höheren Etagen einiger Hotels am Lido oder auf der Giudecca, besonders frühmorgens im Winter oder Spätherbst bei kaltem Nordwind die ca. hundert Kilometer entfernten Dolomiten. Manchmal erscheinen die Gipfel über der Lagune bei Sonnenuntergang, »wenn sich der Tag verkühlet«: Das ist die berühmte enrosadira, bei denen die gezackten Berggipfel wie eine Fata Morgana über die Markuskirche fallen. Der Graf zeigt im berühmtesten seiner Zyklen bewunderungswürdige Knappheit. Ein Vers, eine Wendung genügt, die märchenhafte Stadt vor unserem inneren Auge erstehen zu lassen. Mit nachgerade opernhafter Zuverlässigkeit tritt, nachdem die Ouvertüre – aus drei Sonetten bestehend, vergleichbar der Sinfonie-Ouvertüre des achtzehnten Jahrhunderts – Stadt und Landschaft ins Bewusstsein des Lesers projiziert, eine erste Figur auf. Sie wird als Freund vorgestellt, und Platen gönnt sich eine Pointe: Es handelt sich um Giovanni Bellini. Der Dichter bezieht sich ausdrücklich auf ein Werk mit Engeln, sei es den San Zaccaria-Altar, sei es den Hiob in der Akademie, sei es eine der Madonnen. Seine Apotheose der Kunst deutet Platen hier schon an. »Jahr’ um Jahre« möchte er »mit deinen Engeln, Gian Bellin« leben. Sechs Sonette weiter sind wir im programmatischen Kern des Zyklus angelangt. »Um Gottes eigne Glorie zu schweben, / Vermag die Kunst allein und darf es wagen, / Und wessen Herz Vollendetem geschlagen, / Dem hat der Himmel weiter nichts zu geben!« Wir befinden uns hier inmitten einer modernen Kunstmetaphysik, die mit uns heute viel und mit dem Schaffen der Jahrtausende vor Platen nichts zu tun hat. Die Pyramiden, die Mosaiken von Ravenna, die Kathedralen und mittelalterlichen Madonnen sind ausschließlich Werke des Glaubens. Unsere fahle Vorstellung von Kunst blieb den frühen Menschen erspart. Platen dagegen ist schon voll und ganz einer der unsern; ein Moderner, der nach Abdankung der Götter die Erlösung nur noch von der Kunst erwartet, und der diese darum vergottet.

VI

Wo Irdisches vergöttert wird, ist Blasphemie nicht fern. Neu in unserer Zeit ist indes, dass man sich auch Irdischem gegenüber blasphemisch verhalten kann. Man denke daran, wie Venedig heute von ungerufenen und unberufenen Massen niedergetrampelt wird und vergleiche dies mit dem Tourismus zur Zeit Platens: »Ein frohes Völkchen lieber Müßiggänger, / Es schwärmt umher, es läßt durch nichts sich stören / Und stört auch niemals einen Grillenfänger.« In der Novelle Der Tod in Venedig, als Buch zuerst erschienen in jenem annus mirabilis 1913, finden wir uns im Bäderhotel am Lido ein, das heute als Sinnbild europäischer Hochkultur ebenso vor sich hinbröckelt wie diese selbst. Es steht da noch in voller Blüte. Allein das Venedig der Belle Epoque erscheint uns heute schon als Spätform, als letztes Aushauchen des Geistes. Wenn wir nicht gerade den Januar oder die stillen und geheimen Gassen in der Lagunenstadt wählen, fühlen wir uns inmitten der vollendeten Barbarei, die mit Overtourism nachgerade schonend beschrieben ist.

Platen selbst im ersten Viertel des neunzehnten Jahrhunderts freilich glaubte sich schon zu spät gekommen und blickte mit Melancholie auf das Venedig des Ancien Régime zurück, während er sich in einer zur österreichischen Provinzstadt abgesunkenen Biberrepublik befand. Wenn die Erwachsenen von Platen sprachen, dachte ich als Kind immer, es handle sich um eine Art Platon. Schließlich war da ja auch noch ein Plotin. Und dann hielten sich da die geheimnisvollen jägergrünen Bände, offenbar seit sechs oder sieben Generationen im Hause, zwischen größeren Bänden versteckt. Diese vier kleinen Soldaten standen immer noch frisch und zum Sturm bereit in Reih und Glied und machten einen recht unaufgeschlagenen, ungelesenen Eindruck. Gehen Sie doch einmal an Ihren Bücherreihen entlang und schauen Sie, welche Werke vorhanden, welche nicht vorhanden sind, wie intensiv oder wie wenig sie gelesen, und Sie werden einiges über Ihre Altvorderen erfahren. Mir erschien als Kind die »Cotta’sche Bibliothek der Weltlitteratur« aufgrund ihres kleinen Frakturdrucks kaum entzifferbar. Beim Blättern verriet die Platen-Ausgabe immerhin, dass unser Graf nicht wenige Theaterstücke geschrieben hat, meist humoristischen Charakters. Deutscher Humor freilich kommt nicht selten auf Stelzen daher; schon gar, wenn er sich klassizistisch gibt. »Verskünsteleien« Platens wurden schon zu seinen Lebzeiten getadelt. Im Gegensatz dazu gibt sich Venedig im schlichten fünfhebigen Iambus des petrarkischen Sonetts, das hier getragen daherkommt und feierlich zum Marmorblock erstarrt. In glückhaften Momenten freilich konnte dieser Dichter andernorts unumwunden volkstümlich werden: »Du denkst an mich so selten, / Ich denk‘ an dich so viel…«

August von Platen vier Bände
Foto: Stephan Reimertz

VII

Über die Nasen, die Platen und Heine einander drehten, ist viel geschrieben worden. Dass ein jüdischer und ein schwuler Dichter Anfang des neunzehnten Jahrhunderts aufeinander eindroschen, ist nicht allein der literarischen Konkurrenz geschuldet und der Rivalität der Minderheiten untereinander. Beide Dichter gingen hier deutlich unter ihr Niveau. Schwule haben bei den Juden von Alters her keinen guten Ruf. Davon kann auch heute das kosmopolitische Gebaren am Strand von Tel Aviv nur wenig ablenken. Es kam einem klassischen jüdischen Witz gleich, wer in Salcia Landmanns Sammlung aufgenommen zu werden, als ich 1987 in Straßburg Peter Honigmann einmal fragte, wie das orthodoxe Judentum zur Homosexualität stehe: »Dazu steht ihm nichts!« Ihm und seiner Frau Barbara war relativ spät aufgefallen, dass sie Juden seien. Daraufhin waren sie aus der DDR nach Straßburg gezogen in die zweitgrößte jüdische Gemeinde Frankreichs und hatten von da an orthodox gelebt. Auffällig ist, dass Heine Platen auch als Adeligen angriff. Hierbei war nicht wenig Neid im Spiel. Bekannt ist Heines Äußerung an anderer Stelle: »Ja, mich dünkt zuweilen, der Teufel, der Adel und die Jesuiten existiren nur so lange, als man an sie glaubt.« Die Situation erscheint tragisch, da das Judentum auch eine Art Adel darstellt; der Jude ist der Abel dieser Kainitischen Auseinandersetzung. Die beiden Dichter verurteilten sich gegenseitig zum rastlosen Umherziehen Kains. Goethe äußerte sich gegen Eckermann zu diesem Fall dahingehend, dass es schon ausreiche, wenn die stumpfe Menge die Begabten verfolge, und dass diese es nicht auch noch gegenseitig tun sollten. Witterte der greise Dichter, dass hier wie so oft der Brudermord ein verhinderter Vatermord war? Auffällig ist durch die Jahrhunderte, wie der Mob Adel und Juden miteinander identifizierte, bis hin zu jener blutigen Taufe der Republik Deutschösterreich nach dem Ersten Weltkrieg. Die Sitzungsprotokolle der Konstituierenden Nationalversammlung für Deutschösterreich vom 2. und 3. April 1919 sind eine schockierende Lektüre. Die hasserfüllten Abgeordneten vergaßen mitunter, dass sie über die Aberkennung der Adelstitel befinden wollten und fielen in antisemitisches Geifern. Heute sind Adelige und Juden für manche »die einzigen Leute, mit denen man in Deutschland noch verkehren kann«.

VIII

In seiner biographischen Einleitung zur genannten Platen-Ausgabe weiß Karl Goedeke zu berichten, wie sich der Graf, vom Militär beurlaubt, auf seiner ersten Italienreise im Herbst 1824 mehrere Wochen in Venedig aufhielt, aus Versehen länger blieb als der Urlaub währte, und wie er dies bei seiner Heimkehr mit einem mehrwöchigen strengen Arrest in Nürnberg büßen musste. »Die Frucht jener Reise nach Oberitalien waren die herrlichen Sonette aus Venedig (Erlangen 1825); die Frucht des Arrests die Abhandlung Das Theater ein Nationalinstitut.« Es versteht sich, dass in der autoritären, gleichgeschalteten Schule der 1970er Jahre in beiden deutschen Staaten Platen gar nicht und Heine nur insofern vorkam, als man ihn politisch ausschlachten konnte. Die Tabuisierung freilich verschaffte Platen eine Sprengkraft, wie sie dann erst wieder George und Hofmannsthal in sich sammeln konnten. Graf Platen steht am Knotenpunkt weltliterarischer Verflechtungen. George gegenüber verfügt er über den Vorteil einer nicht gewollten, sondern angeborenen Vornehmheit. Die bei aller Schwärmerei noble Zurückhaltung, ja Beiläufigkeit des fränkischen Poeten gönnt uns Ausblicke von barockem Farbspiel, wie sie erst wieder bei Hofmannsthal zu haben sind. In Venedig erscheint ihm die Kunst »Mit ihrer Farbenpracht vom Meer entstiegen, / Hier scheint auf bunten Wolken sie zu fliegen, / Gleich einer zauberischen Fee Morgane.«

Noch weiter ausdifferenziert hat Adrian Stokes in seiner Venedig-Monographie die Beziehung von disegno und colore unter spezifisch venezianischen Bedingungen: »Venice excels in blackness and whiteness; water brings commerce between them. Italians excel in the use of black and white, white stone and interior darkness. Colour comes between, comes out oft hem, intensely yet gradually amassed, like a gondola between water and sky.« Einfacher, nachgerade kindlicher Farbauftrag herrscht im Vergleich zu Platen in den Bild- und Farbanrufungen Georges vor, der sich offenbar Präraffaeliten und Kunst der Jahrhundertwende eher vor Augen führt als die Alten Meister: »Er nahm das gold von heiligen pokalen , / Zu hellem Haar das reife weizenstroh , / Das rosa kindern die mit schiefer malen , / Der wäscherin am bach den indigo.« (So in der Erstausgabe.) Die Farbgebung Georges gebärdet sich so, als ob Platen sich stärker von Nazarenern und Deutschrömern seiner Zeit hätte anrühren lassen als von Tizian, Palma Vecchio und Bellini. Nichtsdestotrotz spielt Farbe im Werk beider Dichter eine herausragende Rolle. Sie ist hier wie dort mit strenger Linearität in überraschendes Gleichgewicht gebracht, als gelte es, mit der Feder des Dichters einen Beitrag zur Kunstgeschichte zu leisten, venezianische colore und florentinisches disegno auszubalancieren.

IX

Deutschland erscheint bei Platen als seelisches Gefängnis, der Klassizismus als Haltung der Abgrenzung und Selbstbehauptung, der Süden als Ort der Wiedergeburt, Venedig als symbolischer Topos, die Kunstlandschaft als Paradies. Politische Kritik bringt der Dichter höchst indirekt und ungemein geschickt an. Venedig war damals eine von Wien aus regierte Provinzstadt des Österreichischen Kaisertums. »Im Politischen bin ich vorsichtig gewesen und habe nichts gesagt, was sich nicht jede Zeitung erlaubt«, wird er kurze Zeit später im Zusammenhang mit seiner Komödie Die verhängnisvolle Gabel an Gustav Schwab schreiben. »Dies geschah, um mir nicht den Weg nach Italien zu versperren, wohin ich so sehr trachte.« Erinnern wir uns, wie die österreichische Zensur topographisch in die Opern Giuseppe Verdis eingreifen wird. In dem Endzwanziger der Sonette aus Venedig schlummerte schon der aristophanische Satiriker und politische Lyriker. Und so kehrte er fast zehn Jahre später nach weiteren Italienreisen (insbesondere nach Neapel und Taormina, den schwulen Hotspots der damaligen Zeit) und Aufenthalten in der Lagunenstadt geläutert und gelöst noch einmal in die Lagune zurück, um epigrammatisch zu zeigen, was er an universalem Blick gewonnen hatte, als er Venedig mit anderen oligarchischen Handelsstädten verglich:

Kaufmannsvölker erblickte die Welt oftmals und erblickt sie
            Heut noch; aber es sind leidige Sammler des Gelds:
Ihr wart Helden und trugt im Gemüt unsterbliche Großheit,
            Welche das Leben verklärt durch die Gebilde der Kunst.

Platen bedient sich in seiner politischen Kritik in den Sonetten einer leichten Camouflage. Zwar trauert er der freien Adelsrepublik nach: »Es liegt der Leu der Republik erschlagen«, doch erklärt er ihr Verlöschen zur Schuld »Des koriskan’schen Überwinders«, nicht des Österreichischen Kaisertums, welches Venedig auch bei seinem ersten Besuch schon seit zehn Jahren regierte. Heute könnte allein eine Stadtregierung mit eiserner Faust die Würde Venedigs wiederherstellen. Was Graf August von Platen zu dem unter Turnschuhen zertrampelten Leichnam der Serenissima gesagt hätte…

X

Aus dem Umkreis der Sonette aus Venedig, die als Brennglas europäischer Kunstphilosophie der Zeit erscheinen, entspringen auch zahlreiche Italien gewidmete Gedichte und Reflexionen darüber, »Wie leicht es ist, die Heimat aufzugeben, / Allein wie schwer, zu finden eine zweite.« Man kann sie nicht ohne Gedanken lesen an diejenigen, die das »Dritte Reich«, die DDR oder das autoritär-gleichgeschaltete Deutschland von heute verließen:

Doch wer aus voller Seele haßt das Schlechte,
Auch aus der Heimat wird es ihn verjagen,
Wenn dort verehrt es wird vom Volk der Knechte.
Weit klüger ist’s, dem Vaterland entsagen,
Als unter einem kindischen Geschlechte
Das Joch des blinden Pöbelhasses tragen.

Platen und Heine, der Graf in italienischer, der Jude in französischer Verbannung, Widersacher zu Lebzeiten, erscheinen uns heute als Vorgänger der deutschen Exilliteratur, vereint in jener »Trauer, sich in der Heimat verkannt zu wissen«, die Karl Goedeke dem Grafen attestiert.

XI

»Weil da, wo Schönheit waltet, Liebe waltet…« setzt Platen unumwunden voraus und eröffnet damit den europäischen Ästhetizismus drei Generationen vor dessen offiziellem Beginn. Kurze Zeit später schrieb der Dichter sein berühmtestes Gedicht. Es erscheint wie eine Fortsetzung. Im Januar 1825 hebt es an mit den Versen: »Wer die Schönheit angeschaut mit Augen, / ist dem Tode schon anheimgegeben…« Und er gab ihm eine Überschrift, die uns Nachgeborenen als Prophetie erscheinen muss: Tristan. Dieses zweite Gedicht nimmt aber außer der epochalen Oper auch ein Flimmern von fin de siècle vorweg. Es gehört damit zu den nicht wenigen Kunstwerken, die zu einem gewaltigen Zeitsprung ansetzen. Man denke nur an die Malerei eines anderen Wahl-Venezianers, William Turner, der bereits um 1800 im Impressionismus schwelgte. Nicht minder prophetisch erscheint die Bemerkung des Herausgebers Karl Goedeke in der Platen-Gesamtausgabe: »Es würde für uns von Vorteil sein, hätten wir die Fragmente der unvollendeten Tragödie Tristan und Isolde, welche nach einer Andeutung in dien Briefen an Schwab das Gewand der griechischen Tragödie trug, vor Augen, weil daraus erhellen würde, wie der Dichter die für die deutsche Literatur noch ungelöste Aufgabe angegriffen, einen mittelalterlichen Stoff in eine klassische Form zu bringen.« Goedecke ahnte nicht, wie gerade in jenem Moment, da er dies niederschrieb, ein deutscher Komponist in Venedig um die Lösung jener Aufgabe rang. Unsere Platen-Ausgabe ist in der J. G. Cotta’schen Buchhandlung und zugleich in der Verlagsbuchhandlung der Gebrüder Kröner in Stuttgart o. J. erschienen. Durch diese Bemerkung des Herausgebers wissen wir immerhin, dass es vor 1865 gewesen sein muss…

XII

Das Oè! und Oiè!, das die Gondolieri einander zurufen, bevor sie um die Ecke biegen, erwähnt der Dichter am Ende des vierzehnten Sonetts. Manche Allusion mag uns ankommen, an die Platen noch nicht gedacht haben kann; der Ruf des Käuzchens im zweiten Akt des Tristan, den Wagner am Canal Grande bei San Vidal im Palazzo Giustinian komponierte, oder das Rufen nach Tadziù! am Lido. Beides sind Todesrufe. Franz Liszt war nicht der erste, der in seiner Trauergondel, einer impressionistischen Skizze für Klavier, keine zwei Monate vor Wagners Tod als dessen Gast im Palazzo Vendramin-Calergi geschrieben, die Gondel als Beisetzungsgefährt sah, ihren schwarzen Kasten als Sarg. Platen sollte, noch nicht vierzig Jahr, allerdings nicht in Venedig, sondern in jener Stadt sterben, die im 4. Jh. v. Chr. Hauptstadt der praktisch-politischen Philosophie, ein Jahrhundert später Zentrum der lyrischen Innovation und politischen Dichtung gewesen war, und auf deren bekanntesten Poeten Platen als auf einen seiner Ahnen zurückblicken durfte.

Noch kurz nach seiner ersten Italienreise, im September 1825, hatte Platen den Plan, nach Rom zu gehen, »meine erste und letzte Sehnsucht« genannt, geriet dann in Süditalien jedoch in den Bann jenes Phänomens, das die Psychiatrie als Stendhal- oder Florenz-Syndrom bezeichnet: Die plötzliche Überschwemmung eines Besuchers aus dem Norden mit sinnlichen Eindrücken, denen er in ihrer Fülle nicht gewachsen ist. Dabei entfaltet sich die Italienreise des Damaligen mählich, nicht schockartig wie bei uns Heutigen. Nachdem der Graf sich im September 1824 ausgiebig über die Architektur von Salzburg mokiert und in der Landschaft des Salzburger Landes aufgeatmet hat, geht er über Kärnten nach Italien ein im durchaus sanften Übergang. Dann »überfällt und betäubt« Triest den Reisenden, und wir wollen die Hafenstadt darum als erste Station seines Italienaufenthaltes auffassen.

Der Kunstreisende zu Fuß und in der Kutsche orientiert sich bei seinen durchaus für die Veröffentlichung gedachten Aufzeichnungen an Goethes 1816/17 erschienener Italienischen Reise. Wir haben es also keineswegs mit einem Geheimtagebuch zu tun, wie es heutigen Kulturhistoriographen wohl interessanter erschiene, die gern Betrachtungen über die »gay community« (die es nicht gibt) anstellen würden. Ein interessantes Hybrid kommt erst in unseren Tagen auf: Das Geheimtagebuch, das gleich für die Veröffentlichung geschrieben wird. Was Platens Journal ausspart, ist nahezu ausschließlicher Inhalt im Online-Tagebuch seines adeligen Standesgenossen Rosa von Praunheim, der dem Leser kein Abenteuer vorenthält, bis hin zu philosophischen Betrachtungen wie: »Was wären wir ohne Schwänze? Sehr viel ärmer.« Immerhin handelt es sich bei Platens Aufzeichnungen um den in seiner Zeit seltenen Fall eines bereits für die Veröffentlichung geschriebenen Memorandum meines Lebens mit Kapiteleinteilungen, Motti usw. Erst um die Jahrhundertwende freilich ist der Text in zwei Bänden veröffentlicht worden. Zu den hochmögenden Gedichten des venezianischen Zyklus bekommt man im Journal die Banalitäten der Reise mit Gasthaus und Kunstführung. Ist das Gewinn oder Verlust? Allerdings kann man in den Aufzeichnungen von Seite zu Seite miterleben, wie Graf Platen um die Gestalt eines modernen Journals für die Öffentlichkeit ringt. In seiner Alltäglichkeit sticht es dennoch von den Sonetten ab. Doch hören wir Ende September hier zum ersten Mal von diesen Gedichten, als der Graf, noch in äußerer Verwirrung, schreibt: »Auch die poetische Natur scheint gänzlich versiegt zu sein. Nur eine kleine Reihe zum Teil noch unvollendeter Sonette ist entstanden, die ganz auf Venedig beruhen.«

XIII

Goethe, zwei Generationen vor Platen in Venedig, noch im Ancien Régime, schildern die Stadt lebendig wie einen fließenden, glitzernden Bach. Bei Platen ist sie zum Marmorbild erstarrt, erfüllt von vergeblichen Sehnen nach ihrer Vergangenheit und der Unmittelbarkeit des Eros. In den Epigrammen, Venedig 1790 schreibt jener:

Welch ein Mädchen ich wünsche zu haben? ihr fragt mich? ich hab sie,
     Wie ich sie wünsche, das heißt, dünkt mich, mit wenigem viel.
An dem Meere ging ich, und suchte mir Muscheln, in einer
     Fand ich ein Perlchen, es bleibt nun mir am Herzen verwahrt.

Dieser dagegen:

Wie soll der Fremdling eine Gunst dir danken,
Selbst wenn dein Herz ihn zu beglücken dächte,
Begegnend ihm in zärtlichen Gedanken?

Kein Mittel gibt’s, das mich dir näher brächte,
Und einsam siehst du meine Tritte wanken
Den Markus auf und nieder alle Nächte.

Goethe seufzt im Diwan selbstironisch: »Immer Mädchen!« Thomas Mann zitiert dies im Tagebuch dann mit einem ganz anderen Zungenschlag. Bei Platen bleibt es beim Verlangen nach dem Freund, der Stadt, der Kunst; und zugleich bei der Erkenntnis der Unmöglichkeit, das Objekt ganz zu besitzen. In diesem Sinne wäre der Zyklus ein Beispiel dafür, wie ästhetische Erfahrung, Ort und Begehren sich kondensieren. Das Subjekt, belebt durch Kunst und Erinnerung, durch Überraschung und Stil, bleibt dennoch in der Bewegung des Begehrens gefangen. Es erkennt, dass das, worauf es gerichtet ist, mehr Bild als Besitz bleibt. Platen dichtet im Schatten Goethes. Dieser schreibt als ein Mensch, der das Leben versteht, Platen wie einer, der das Leben ersetzen will. Bei Goethe wird das Epigramm zum Tanz, bei Platen das Sonett zur Kathedrale.

XIV

Letzte Fragen bleiben nicht ungestellt. »Was läßt im Leben sich zuletzt gewinnen?« Platen zieht eine an Mark Aurel und die späte Stoa gemahnende bittere Bilanz: »treu ist nur der Schmerz«. Anders als der römische Kaiser schwingt sich der fränkische Dichter am Ende des sechzehnten und vorletzten Sonetts seines Venedig-Zyklus jedoch zu einem Blickwechsel mit der Lagunenstadt auf; »ein Blick der Liebe«. So wird die ungewöhnliche Dichtung zuletzt zu einem Kunstwerk der Hoffnung und Transzendenz. Platens Sonette aus Venedig entfalten freilich auch in wenigen Zeilen die schwule Tragödie. Die Farce der Schein-Toleranz, da Minderheiten von Mehrheiten zur politischen Propaganda missbraucht werden, blieb den Zeitgenossen Platens noch erspart. Lesben und Schwule kämpften jahrhundertelang um Anerkennung, nur um am Ende mit der Regenbogenflagge die Weiße Fahne der Kapitulation vor der politischen Propaganda ausrollen zu müssen.

Graf Platen enthüllt sich in seinen Venedig-Sonetten als melancholischer Ästhet, Exilierter im eigenen Jahrhundert, Liebender des Unberührbaren, Siegelbewahrer des Unzeitgemäßen, als Dichter, der die eigene Spaltung verschönt. Rolf Bongs wiederum deutet in seinem Venedig-Zyklus unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg die Einsamkeit Venedigs als Verlorenheit der europäischen Kultur inmitten des Aufstiegs der Titanen. Doch nicht die zwei Weltkriege brachten das Ende Europas, das Ende Venedigs, sondern die aus ihnen wie Zombies hervorgesprungenen Todesengel auf Turnschuhen. Ein Gespräch über Venedig gleicht heute Brechts Gespräch über Bäume, weil es das Schweigen über soviel Verbrechen mit einschließt. Im Jahre 2017 brach, von Mailand ausgehend, die Firma Starbucks in Italien, dem Land des Kaffees, ein. Und während ich dies schreibe, wird gerade in Rom das Caffè Greco, in dem Platen, Goethe, Shelley, Casanova, Da Ponte u. v. a. verkehrten, nach über 250 Jahren geschlossen; vielleicht für immer. Die Zerstörung Venedigs und der Welt durch eine Armee in Baseballkappe, T-Shirt, Bermudas, weißer Socke und Turnschuh konnte sich selbst der pessimistische Graf in seinen düstersten Momenten am Canal Grande nicht vorstellen. Wir wiederum wurden nicht geboren, dies widerstandslos hinzunehmen.

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