Als ich Carsten Schmidt kennenlernte, merkte ich schnell: Die Welt der Bücher ist sein Zuhause. Mehr noch: Es sind die Geisteswissenschaften, in denen er sich rundum wohlfühlt. Und doch ist bei ihm auch immer ein gesunder und durchaus kritischer Blick auf die Realität. In seinem ersten Roman „Ausgekafkat“ macht Carsten Schmidt jetzt genau dies zum Thema. Eine junge Frau, Germanistin, scheitert an der Realität. Schlimmer: Scheinbar aus heiterem Himmel schlägt seine Protagonisten Tabea einen berühmten Literaturprofessor, den sie nicht einmal persönlich kennt, fast tot. Eine Tat, die Aufsehen erregt und Tabea ins Gefängnis bringt. Hier merkt sie, wie weit entfernt sie sich bereits von dem entfernt hat, was für andere die „normale Welt“ ist.
Barbara Hoppe sprach mit dem Autor.
Feuilletonscout: Carsten, in Lesungen und Gesprächen mit dir erklärst du dem Publikum, dass du mit „Ausgekafkat“ einen Roman schreiben wolltest, der die Diskrepanz von Geisteswissenschaftlern und ihrer oft weltfremden Sicht auf das Leben und dem, was das „normale“ Leben ausmacht, darstellen wolltest. Hast du selbst diese Diskrepanz kennengelernt?
Carsten Schmidt: Ich habe selbst in solch einer „Blase“, sag ich mal, gelebt und mir früher vorgestellt, dass man wie von „Luft und Liebe“ irgendwie auch alleine mit Literatur und Theater leben oder wenigstens glücklich sein kann. Jedenfalls habe ich das gehofft. Gleichzeitig habe ich aber bereits während des Studiums zeitweise vier Arbeitgeber gehabt wie Nachhilfeinstitute, Volkshochschulen und Sprachenzentren, um über die Runden zu kommen. Das heißt, die Diskrepanz war sofort da. Es ist leicht, als Tucholsky oder Fallada so ein Bild zu vermitteln, bloß Tucholsky hatte sehr gute Rücklagen und Fallada wurde von Ernst Rowohlt sehr gut versorgt. Das ist das eine, die pragmatische oder geerdete Sicht. Das andere ist die oft verträumte oder nebulöse Sprache von Germanisten, die man nun mal außerhalb der akademischen Kreise einfach schwer versteht. Dadurch können Arroganz auf der einen und Komplexe auf der anderen Seite entstehen.
Feuilletonscout: Bei mir hat sich beim Lesen ein ganz anderes Gefühl eingestellt. Mir fiel die Ruhe in der Erzählung auf. Die vielen Details, das Langsame im Fortschreiten der Geschichte. Fast wie in alten Filmen, in denen noch ganz anders geschnitten wurde als heutzutage, wo die Bilderfolge sehr viel schneller ist. War das wichtig für dich?
Carsten Schmidt: Ich werde wahnsinnig, wenn ich heutige Musikvideos oder auch viele Kinotrailer sehe, wo es mehrere Schnitte pro Sekunde gibt, das überfordert mich. Bei einem vollkommen irre geschnittenen und hektisch verkürzten James-Bond-Film vor 10 Jahren habe ich mich von dieser Art der Unterhaltung verabschiedet. Ich fühle mich als Erzähler sicherer, wenn ich langsamer die Kamera bewege, sozusagen, und ich glaube, dass Leser gern die Dreidimensionalität haben und sie wertschätzen. Die entsteht aber nicht, wenn man quasi durch einen Raum rennt. Es gibt Szenen von Autoren, die ich verehre, die ich in meinem Kopf gespeichert habe und nie mehr vergesse. Wenn mir das mit der Tabea punktuell gelingt bei Leserinnen und Lesern, wäre das super.
Feuilletonscout: Man merkt, dass du genau weißt, worüber du schreibst. Du hast viel recherchiert, richtig? Steckt auch selbst Erlebtes darin?
Carsten Schmidt: Ja, es steckt auch vieles drin, was ich zumindest von der Atmosphäre und Stimmung, vom Emotionalen her erlebt habe. Aber ich glaube auch, dass der Spruch, man soll nur über das schreiben, was man kennt, nicht stimmt. Karl May war zum Beispiel nie in Amerika, hat aber trotzdem den Wilden Westen beschrieben. Jules Verne oder Jonathan Swift und andere haben ja auch ganze Welten entwickelt in ihren Köpfen. So sehe ich es bei mir auch. Klar – ich habe einiges so ähnlich erlebt – aber ich recherchiere auch, um mir die Räume und die Situationen besser vorzustellen, wie etwa mit Ärzten sprechen, die in Afghanistan waren, oder mit Häftlingen, die in deutschen Gefängnissen saßen usw. Den Rest machen meine zugegeben große Fantasie – und Handwerk.
Feuilletonscout: Obwohl Tabea als verstockte Schlaumeierin und ihre Zellengenossin eher als ihr Gegenteil rüberkommen sollen, finde ich keine der Figuren besonders unsympathisch. Im Gegenteil. Ich finde, die Geschichte ist sehr warmherzig erzählt. Ich empfinde es so, dass auch die Figuren recht respektvoll miteinander umgehen, auch wenn es hier und da mal ein wenig knirscht. Ich hatte immer das Gefühl, dass du ein Geschehen schilderst, dass der Realität viel näher ist als so mancher „Knast-, Frauen- oder Justizroman“. Soll das so sein oder würdest du das unter meine ganz persönliche Empfindung einstufen?
Carsten Schmidt: Ich war sehr froh, das Buch in Wien vorstellen zu können, weil der Drava Verlag, der das Buch gemacht hat, aus Österreich kommt. Das dortige Publikum war sehr aufmerksam – und als der Moderator Ernst Grandits sagte, es sei spannender als alle Tatorte zusammen – haben viele genickt im Publikum. Es gibt also durchaus eine Wertschätzung dafür, nicht nur nahe dran an der Realität zu schreiben, sondern auch der Umgang auf Augenhöhe zwischen den Personen. Ich glaube, einen Action-Thriller mit viel Gewalt könnte ich nicht schreiben, weil ich Gewalt einfach sehr verabscheue, auch verbale. Von daher habe ich an den Dialogen u.a. zwischen der Protagonistin Tabea und dem Anwalt Rebe lange gefeilt, weil ich das Verhältnis ziemlich wichtig fand.
Feuilletonscout: Bei deiner Lesung in Berlin hast naturgemäß du vorgelesen. Die Geschichte hingegen handelt von einer Frau, aus deren Sicht das Geschehen auch überwiegend geschildert wird. Sie selbst hat, weil sie in einem Frauengefängnis ist, vor allem Kontakt zu Frauen. Männer spielen zwar auch eine Rolle, aber eher aus der Ferne: Der Bruder aus einem Einsatz in Afghanistan, der Ex-Freund in Istanbul, Tabeas Opfer, der Germanistikprofessor, aus der Reha an der Ostsee. Wie hast du dich in diese „Frauenrolle“ hineingefunden?
Carsten Schmidt: Komischerweise habe ich ein gutes Gespür für Stil oder Klang. Bei einem Buch mit 75 Beiträgen für einen Schweizer Verlag hatte ich mal nur die Texte ohne Autorennamen bekommen, um sie zu lektorieren, und habe mir zum Spaß die Symbole dahinter gemalt, wo ich mir einen weiblichen oder männlichen Autor vorstellte – 73 mal lag ich richtig. Ich glaube, ich höre einfach gut zu, wie sich Frauen unterhalten und was ihnen wichtig ist.
Feuilletonscout: Hattest du beim Schreiben manchmal Angst, in Klischeefallen zu tappen? (in Bezug auf Frauen, Therapeuten, Wärter im Gefängnis, Atmosphäre im Gefängnis usw.)
Carsten Schmidt: Das ist nicht leicht. Ich glaube, ich habe immer die konkrete Situation gesehen, was „verlangt“ die Szene? Es gibt zum Beispiel eine, wo die recht ungebildete Zellengenossin Billie zu Tabea sagt: „Ja, nehm dir, da in der Schublade ist alles drin “ – oder so ähnlich, und Tabea denkt dann über den Verfall des Imperativs nach, weil eigentlich „nimm“ richtig gewesen wäre. Auch wenn das vielleicht ein Klischee ist und eventuell Leser da die Augen rollen, wollte ich da zeigen, was wirklich in Köpfen von Geisteswissenschaftlern geschieht. Das Besondere beim Gefängnis ist halt: Tabea bereut nicht und sie hat nichts zu verlieren, gar nichts. Deshalb leidet sie auch nicht zwingend so darunter wie vielleicht ihre Zellengenossin, der ihre Tat leidtut und die raus will.
Feuilletonscout: Welchem Genre würdest du „Ausgekafkat“ am ehesten zuordnen? Ein Entwicklungsroman, im weitesten Sinne eine Milieustudie oder doch Gesellschaftsroman? Wenn letzteres, was sagt er über unsere Gesellschaft aus?
Carsten Schmidt: Ich hatte erst gedacht, es als Krimi anzupreisen, weil man mir sagte: „Krimis gehen immer“. Das ist aber Quatsch. Es ist ein Gesellschaftsroman, weil er zeigt, in welcher Lage Menschen wie Tabea heute leben, egal ob nun 2010 oder 2018. Und die Stimmen, die ich bisher aus der Schweiz und Österreich gehört habe, bestärken mich darin, dass es sehr ähnlich auch in anderen Ländern verstanden wird. Es gibt allerdings auch Leser und Leserinnen, die es als Entwicklungsroman verstehen, weil Tabea zumindest manche Dinge erkennt und ablegt oder beginnt zu verstehen und viel reflektiert. Wenn es etwas über die vor allem deutsche Gesellschaft sagt, dann dass wir noch viel daran arbeiten können, unsere Empathie für den Mitmenschen auszubauen. Was das Buch über das Land der Dichter und Denker sagt – nun ja, vielleicht hilft es da, mal zwei Stunden in eine Bibliothek zu gehen und sich einen „Spiegel“ oder „Stern“ von 1992 oder so zu nehmen und mit einem heutigen zu vergleichen, was die Art der Sprache, die Tiefe der Artikel und die Wahl der Worte angeht. Da wird man Antworten finden.
Feuilletonscout: Was möchtest du, sollen deine Leser von der Lektüre von „Ausgekafkat“ mitnehmen?
Carsten Schmidt: Eigentlich freue ich mich, dass es überhaupt als Buch erschienen ist und ich so viele tolle Stimmen bereits nach wenigen Wochen erhalten habe, auch außerhalb des akademischen Zirkels. Wenn es Leute unterhält und sie gern die Geschichten darin verfolgen, bin ich zufrieden. Und wenn das Buch dazu beitragen kann, dass sich Menschen aus verschiedenen Branchen trotzdem gut verstehen können, ist das genau so toll.
Vielen Dank, Carsten Schmidt!
Carsten Schmidt
Ausgekafkat
Drava Verlag, Klagenfurt 2018
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