Rezension von Ingobert Waltenberger.
Das CD-Buch aus einer der innovativsten Klassik-Werkstätten, Bru Zane, mit Gounods „Faust“, Vol. 22 der Edition, bezeugt nichts weniger als eine musikhistorische Großtat. Es geht um das Verständnis der Entwicklung der französischen Oper im 19. Jahrhundert. Bislang gab es Bemühungen um die Erarbeitung der verschiedenen existierenden Fassungen mit orchesterbegleiteten Rezitativen oder „nur“ gesprochenem Text für die Opern „Carmen“, „Mignon“ oder „Lakmé“. Jetzt ist „Faust“ an der Reihe und wir können dadurch besser den Übergang von der opéra-.comique zur Grand Opéra nachvollziehen.
Wollen wir uns mit der ersten 1859 uraufgeführten Version von Gounods Faust befassen, müssen wir von so mancher Hörgewohnheit Abschied nehmen. Die vorliegende Aufnahme greift nicht auf die gewohnte, in der Theaterpraxis wie durch das stete Reiben eines Gletschers an der musikalischen Substanz geglättete Version, sondern – soweit rekonstruierbar – auf die Uraufführungspartitur mit gesprochenen Dialogen zurück.
Da verschieben sich die Schwerpunkte und der Gesamteindruck dieser nach der Übernahme an die Opéra de Paris 1869 als romantisches Meisterwerk in die Annalen eingegangenen Oper gewaltig. Aber diese griffigere „Ur-Version“, noch nicht „Grand Opéra“, mit dem harzigen Duft derber Bretter von Vorstadtbühnen, einer männerfressenden lustigen Witwe Marthe und einem versoffenen Wagner gefällt. Faust ist hier ein Stück Volksoper, wo neben der herzzerreißenden Tragödie der armen Kindsmörderin Marguerite auch die trocken elegante Ironie des Mephisto, cool wie James Bond 007, und ein ungehobelter Humor das Herz erfreuen. Es lohnt sich wahrlich, in diese mehr den Charakter einer opéra comique de demi-caractère betonende Version einzutauchen.
Christophe Rousset hatte als letzte Station einer Aufführungsserie ins Théâtre du Champs Elysée gebeten, um dort diese Fassung von Gounods Kassenschlager mit unbekannten Originalarien aus der ersten Version aus dem Théâtre-Lyrique 1859, d.h. mit gesprochenen Dialogen statt instrumentierten Rezitativen vorzustellen. Mephisto darf hier das Chanson des „Maître Scarabée“ vortragen, erst in der gängigen Ausgabe wird es durch das berühmte Rondo „Veau d’or“ ersetzt. Zudem wird die wunderbare Romanze des Siebel „Versez vos chagrins dans mon âme“ viele als Novität erfreuen, ebenso wie das Terzett Faust/Wagner/Siebel „À l’étude ô mon maître“, das Abschieds-Duett Valentin/Marguerite „Adieu, mon bon frère!“ oder der Hexenchor „Un deux et trois“. Außerdem sind sieben „Mélodrames“ zu bestaunen, deren fehlende oder unvollständige Orchestrierung für die vorliegende Edition vervollständigt wurde. Dafür gibt es weder einen Soldatenchor noch Valentins „Avant de quitter ces lieux“.
In der Titelrolle brilliert Benjamin Bernheim. Was für ein Tenor, was für ein umwerfendes Timbre! Als wär‘s ein junger Alagna, besticht sein markant lyrischer Tenor sowohl in der Arie „Salut, demeure chaste et pur“ als auch den dramatischeren Ensembles durch traumhaften Wohllaut, eine exzellent in der „Maske“ sitzende Stimme, scheinbar unendliche Energien und fulminante Höhen. Der Franzose fällt darüber hinaus durch elegantes Phrasieren und einen gekonnten Lagenwechsel mittels des gezielten Einsatzes der „voix mixte“ auf. Bernheim lässt mit dieser Leistung genauso aufhorchen, wie dies Jonas Kaufmann mit seinem ersten Alfredo 2007 in Paris gelang. Hoffentlich lässt er sich nicht zu rasch zu Spintorollen drängen. Das „Corelli-Fach“ kann warten.
Marguerite ist mit Véronique Gens, somit einer Avantgardistin und Stilikone der französischen Barockoper besetzt. Es ist das Rollendebüt in einer jugendlichen Rolle, das die nun 53-jährige mit musikalischer Bravour, aber naturgemäß nicht mehr jubilierender Stimme absolviert. Obwohl die Tessitura in der vorliegenden Fassung tiefer liegt, sind manche Probleme in der Höhe (u.a. in der Juwelenarie) zu konstatieren. Ihr luxuriöses Timbre à la Crespin, ihr vorzüglicher Umgang mit der Sprache, ihre exquisiten Phrasierungen, ihre musikalische Intelligenz und der untrügliche Geschmack gleichen die erwähnten Defizite leider nicht aus. Das Debüt kommt bei allem Respekt für diese großartige Künstlerin einfach zu spät.
Andrew Foster-Williams singt mit schlankem, leider auch spröd-hohlem Bass-Bariton einen trockenen Méphistophélès mit gemütlichem Höllencharme. Mit Dämonie oder dunkel verführerischen Stimmfarben kann er nicht aufwarten. Dafür haben wir in Ingrid Perruche eine Dame Marthe mit vollem Mezzo, umwerfend komisch und in ihrer direkten Anzüglichkeit ein Vollblutweib, das sich so einen Méphisto zwischendurch zum Frühstück reinzieht. Diese Marthe lässt, was Männer anlangt, sicher nichts anbrennen.
Jean-Sébastien Bou verströmt als Valentin nicht nur militärische Akkuratesse, sondern lässt mit einem sensibel geführten lyrischen Bariton alle Nuancen der schwierigen Partie zwischen Vaterlands- und Schwesternliebe, aber auch der tödlich endenden Verteidigung der Familienehre glaubhaft erklingen. Juliette Mars als Siebel und Anas Séguin als Wagner/Bettler agieren rollendeckend.
Christophe Rousset und seine barockmusikgestählten „Les Talents Lyriques“ sorgen mit ihrer transparenten, dramatisch forschen Lesart für ein dichtes Hörerlebnis. Bisweilen fehlt es an Geschmeidigkeit in der Phrasierung. Ecken und Kanten, quasi das Durchschimmern des Gerippes der Partitur dürften dem Dirigenten wichtiger gewesen sein als sängerisches Atmen oder das Spannen runder Bögen. Der Coro della radio Fiamminga trägt mit hoher Präzision und scharfer Deklamation immens zum temperamentvollen Gesamteindruck der Aufnahme bei. Ein wesentliches Atout der Aufnahme.
Anmerkung: Der Palazzetto Bru Zane erforscht die französische Musik des langen 19. Jahrhunderts (1780–1920) und fördert deren Wiederentdeckung in Konzertsälen und auf CDs. Das reiche Musikerbe der französischen Romantik ist nun auch im Bru Zane Classical Radio zu genießen, das rund um die Uhr Musikprogramme bereithält.
Hinweise: Michel Plasson hat bereits in seiner maßstabsetzenden Aufnahme aus dem Jahr 1991 mit einer von Cheryl Studer unvergleichlich strahlend und leuchtend interpretierten Marguerite und weiteren vorzüglichen Opernsängern (Hampson, Leech, van Dam) im Anhang Teile der nun inkludierten Musik, nämlich das Terzett „Faust Siebel Wagner“, das Duett „Marguerite Valentin“, das Chanson des Méphistophélès, aber auch die in dieser Edition nicht enthaltene Ballettmusik, vorgestellt.
Gounod: Faust – Urfassung 1859 (3 CD + Buch)
Benjamin Benheim, Veronique Gens, Andrew Foster-Williams, Jean-Sébastian Bou
Les Talens Lyriques, Flemish Radio Choir
Christophe Rousset (Dirigent)
Bru Zane (Note 1 Musikvertrieb)
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