…aus eigener innerer Mitproductivität…
Von Stephan Reimertz.
Der Kunsthistoriker Christian Lenz hat sich länger mit Max Beckmann beschäftigt als Max Beckmann. Zu seinem 85. Geburtstag schenkte der an der Ludwig-Maximilians-Universität München lehrende Lenz der Kunstwelt und sich selbst nun eine umfassende Monographie über den Ausnahmekünstler. Niemand wäre eher aufgerufen, dieses anspruchsvolle Thema zu schultern: Bereits als junger Gelehrter angesichts eines Stillebens in München von Max Beckmann begeistert, widmete Lenz dem für die Kunstgeschichte so prägenden Maler einen großen Teil seines arbeitsreichen Lebens.
1971 erschien die Abhandlung Mann und Frau im Werke Beckmanns im Jahrbuch des Städelschen Kunstinstituts in Frankfurt, an dem Lenz damals forschte, gefolgt von einer Reihe grundlegender Aufsätze zu diesem Künstler. Vorläufiges Resümee der lebenslangen Beschäftigung mit dem vielseitigen, malerisch herausragenden und oft rätselhaften Maler stellte Lenzens Monographie Max Beckmann und die alten Meister – »eine ganz nette Reihe von Freunden« dar, die im Jahre 2000 anlässlich der gleichnamigen Ausstellung in der Alten Pinakothek München erschien. Damals hatte er Gemälde Max Beckmanns aus dem gewohnten Umfeld der Werke von Munch, Kokoschka, Dix, Schiele usw. herausgelöst und sie mit ihren Vorbildern Dürer, Rubens, den Niederländern wie den Altdeutschen etc. konfrontiert; mit faszinierender Wirkung.
Aufgeladener, federnder Stil
Das war die kunsthistorische Gretchenfrage jener Jahre: Gehört Max Beckmann in die Neue oder die Alte Pinakothek? Das Medusenhaupt dieses Künstlers hat Zeitgenossen wie Nachgeborene gebannt und ihnen vielerlei künstlerische, formale und philosophische Fragen auf den Weg gegeben. Solche Vielseitigkeit, formale Wandlung und innere Metamorphose Beckmanns angesichts von dessen Begegnungen mit den Alten Meistern hatte Lenz in seiner Netten Reihe von Freunden in prägnanten Formulierungen an den Tag gebracht.
Nun verhält sich seine vor einer Generation erschienene Monographie zu dem jüngst veröffentlichten Chef-d’Œuvre wie eine Sonate zu einer Symphonie. Ist auch beiden Werken ein hohes Maß an motivischer und formaler Durcharbeitung eigen, stellt der jetzt im Rhema Verlag Münster erschienene umfangreiche Band doch die Summa einer gewaltigen lebenslangen Forschungsarbeit dar; ihr Material- und Gedankenreichtum wurde ein Forscherleben lang aufgeschichtet. Zu den vielfältigen formalen und historischen flicht er die philosophischen Anstöße ein, die für den umfassend belesenen Beckmann Teil seines geistigen Haushaltes bildeten, etwa die lebenslange Beschäftigung mit Arthur Schopenhauer.
Eine Tugend freilich verbindet die beiden Veröffentlichungen und ist auch ansonsten ein Kennzeichen des kunsthistorischen Autors Christian Lenz: Die gegenüber dem Leser höfliche Voraussetzungslosigkeit, die federnde vermeintliche Einfachheit, mit der er formuliert. Lenz hat sich sein eigenes Instrument geschaffen, um komplizierte historische, formale, künstlerische und philosophische Zusammenhänge auf den Punkt und an den Mann zu bringen. Das ist, wenn man so will, ein humanistischer Zug des humorvollen Sachsen.
Der große Bogen und viele Details
Um das komplexe künstlerische Werk Beckmanns mit seinen vielen Ebenen überhaupt darstellen und interpretieren zu können, benötigt der Kunsthistoriker seinerseits ein differenziertes Instrumentarium, das er sich selbst erst schaffen muss. Mit Werkfolgen und –zyklen wie den heute in alle Welt verstreuten zehn Triptychen, den virtuosen, thematisch eng verzahnten Graphiken – wobei Beckmann der schwierigen, apodiktischen Kaltnadelradierung den Vorzug gibt – den spirituell und existentialistisch aufgeladenen Christus-Visionen im Ersten Weltkrieg und nicht zuletzt der Fülle schonungsloser Selbstporträts hat der Künstler eine Herausforderung an den Betrachter formuliert, die in der Kunstgeschichte ihresgleichen sucht. Max Beckmann selbst verstand sein Werk als mystischen Code: »Wenn’s die Menschen nicht von sich aus, aus eigener innerer Mitproductivität verstehen können, hat es gar keinen Sinn, die Sache zu zeigen.«So verwundert es nicht, wenn seit Lebzeiten des Künstlers Generationen von Autoren und Interpreten ihre Sicht und Lesart seines Werkes angeboten haben. Auf den ersten Blick freilich verwirrt die Fülle der Literatur den Blick auf Beckmann eher, als das sie ihn öffnete.
Umfangreiche Sekundärliteratur fließt ein
Und hier kommt der Autor Christian Lenz auch als Archivar ins Spiel: Da er an den Bayerischen Staatsgemäldesammlungen über Jahrzehnte das Max-Beckmann-Archiv aufgebaut hat, aus dem auch die Max-Beckmann-Gesellschaft hervorging, besitzt er einen umfassenden Überblick über die Literatur. Nicht zuletzt Tausende Querverweise in die Kunst- und Geistesgeschichte machen jetzt sein Buch zu einer epochalen kunstgeschichtlichen Monographie, die aufgrund der plastischen Darstellungsweise den Fachmann wie das breite Publikum anzusprechen vermag. »Er hat dargestellt, was er gesehen und erlebt hat«, resümiert Lenz, »außerdem dichterisch seine ganz persönlichen Vorstellungen zu Bildern gestaltet und damit in zahlreichen Werken Wesentliches vom Menschen und dessen vielfältigen Verhältnissen: Leben als Theater, der Mensch allein und mit anderen, die Problematik von Mann und Frau, Leid und Mitleid, Tod und Bezug zum Jenseits, überhaupt Vielfalt der Natur und der Dinge, auch Kunst als Thema und manches mehr.«
Christian Lenz
Max Beckmann
Rhema Verlag, Münster 2022
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Christian Lenz decrypts Max Beckmann in a comprehensive new monograph.
The renowned art historian Christian Lenz has delved more deeply into the work of Max Beckmann than the artist himself. For his 85th birthday, Lenz gifted the art world and himself a comprehensive monograph on the exceptional artist. As a young scholar, Lenz discovered a still life by Max Beckmann in Munich, shaping his lifelong dedication to the painter. His research began in 1971 with the treatise „Man and Woman in Beckmann’s Works“ at the Städel Museum in Frankfurt. Lenz isolated Beckmann’s paintings from Munch, Kokoschka, and others, captivatingly confronting them with influences such as Dürer and Rubens.
The question of whether Max Beckmann belongs in the Neue or Alte Pinakothek preoccupied the art world. Lenz’s earlier monograph, „Max Beckmann and the Old Masters,“ published in 2000, was a milestone. In his current work, published by Rhema Verlag Münster, Lenz presents a comprehensive culmination of a lifetime of research. He integrates not only formal and historical aspects but also philosophical influences, particularly his lifelong engagement with Arthur Schopenhauer.
Lenz’s writing style is characterized by politeness and apparent simplicity. His new book serves as a sonata to a symphony and is the result of years of research, drawing on Lenz’s extensive knowledge from the Max Beckmann Archive and the Max Beckmann Society. The work illuminates the complexity of Beckmann’s art, from triptychs to self-portraits, providing access for both experts and a broad audience. Lenz summarizes Beckmann’s work as a mystical code, emphasizing its depiction of life, theater, human relationships, suffering, and death.