Und weiter geht’s mit der Neuübertragung der Werke von Yukio Mishima im Kein & Aber Verlag: Als dritter Streich ist am 6. Oktober die Satire Inochi urimasu (Leben zu verkaufen) erschienen. Hier nimmt der Autor die Dienstleistungsgesellschaft als Ausdruck der modernen Welt schlechthin aufs Korn. In den sieben Kapiteln seiner Rezension erläutert Stephan Reimertz, warum die deutsche Erstübersetzung für ihn ein aberwitziges Lesevergnügen darstellt.
Hanio glaubt, er sei im Himmel.
Doch als die Krankenschwester ins Zimmer kommt, wird ihm klar: Sein Selbstmordversuch ist gescheitert.
Am Ende steht ein Blick in die Sterne, der allerdings mit dem Panorama des gestirnten Himmels als Ausdruck des inneren moralischen Gefühls ebensowenig zu tun hat wie mit dem Aufschauen zum erlösenden Stern des Bundes auf der letzten Seite von Michel Tourniers Erlkönig. Yukio Mishimas obsessives Kreisen um das Thema Selbstmord und seine Kritik am westlichen Konsumismus trägt der Autor hier, zwei Jahre vor seinem selbstgewählten Tod, ungewohnt komikgeladen vor. Der Protagonist Hanio in dem Roman Leben zu verkaufen glaubt, er könne nach dem gescheiterten Selbstmordversuch sein geschenktes Leben nun verhökern. Dank seiner originellen Geschäftsidee gerät er in eine Reihe absurd-erotischer Abenteuer, u. a. wird er zum Liebhaber einer Vampirin; eine Beziehung, die für ihn wiederum im Krankenhaus endet.
»Was für Geschäfte treiben Sie eigentlich?«»Das geht Sie gar nichts an.«
»Ich bin aber neugierig.«
»Ich arbeite als Gigolo. Verstehen Sie jetzt?«
»Ist das Ihr Ernst? Aber für mich sind sie wahrscheinlich zu teuer, oder?«
»Jungen Damen biete ich meine Dienste auch kostenlos an.«
»Oh, là, là…«
Die Krankenschwester zog den Saum ihres weißen Kittels hoch und zeigte ihre weißen, von einem Strumpfband gehaltenen Strümpfe sowie ihre Oberschenkel, die gelb waren wie die Erste auf dem Land.
»Aha, jetzt versteh ich, warum es heißt, das Krankenhaus hätte so eine gute Aussicht.«
Mishimas satirisches Glanzstück
Die Japanologin Nora Bierich überträgt Mishimas durchgedrehte Satire in ein fließendes, handwarmes Deutsch. Dabei fällt auf, wie sie den 1968 erschienenen Text nicht in ein Idiom jener Jahre, sondern in den Sprachgebrauch von heute transformiert. Während es sich bei Bierichs vorhergehenden Übersetzung Der goldene Pavillon um eine Neuübertragung handelt, ist Leben zu verkaufen eine deutsche Erstübersetzung. Auch englischsprachige Leser bekamen Life for Sale erst im vergangenen Jahr zu Gesicht, übertragen von Stephen Dodd. Die russische Übersetzung dagegen ist bereits wenige Jahre nach dem Original herausgekommen. Tatsächlich könnte man über weite Strecken dieses Romans den Eindruck gewinnen, man läse eine rasante Satire von Ilja Ilf und Jewgeni Petrow oder das Filmtreatment nach einer Geschichte von Andrej Bely. Soviel Komik hätte Mishima nur derjenige Leser zugetraut, welcher seine weniger bekannten Werke las, wie etwa den ins Französische übertragenen Roman La musique, in dem es um unbefriedigte Sexualität und Psychoanalyse geht; die Protagonistin Reiko »kann die Musik nicht mehr hören«, mit anderen Worten, sie ist unfähig, sexuelle Lust zu erleben.
Anmerkung des Rezensenten:
Mishimas Medienpersönlichkeit, insebesondere seine suizidale Selbstinszenierung,
stehen bis heute zu sehr vor seinem Werk und verdecken es.
Nun kommt es darauf an, dieses stärker in den Mittelpunkt zu rücken
und seine künstlerischen und psychologischen Errungenschaften zu studieren.
Filmische Erzähltechnik
Man liegt wohl nicht ganz falsch, wenn man das Verhalten des Kein & Aber Verlages dahingehend interpretiert, man warte dort erst einmal ab, wie die ersten Bände der Mishima-Neuausgabe vom Publikum angenommen werden, bevor man sich auf weitere festlegt. In deutscher Sprache wäre freilich das Theaterstück Mein Freund Hitler sicher eine interessante Publikation, ebenso wie Musik und Verbotene Farben. Im übrigen liest sich dieser Autor auf Englisch wie besserer Hemingway, auf Französisch wie ein neuer Proust. Soviel uns europäischen Lesern auch entgeht, die wir den, wie Muttersprachler versichern, raffinierten Umgang Mishimas mit dem Japanischen ebensowenig zu würdigen vermögen wie zahlreiche philosophischen Implikationen seiner Texte, so sehr kommt der Autor uns doch entgegen, wenn er sich in ständigen Diskurs mit der europäischen Moderne und ihren Autoren begibt. In Inochi urimasu greift er zudem die Logik des amerikanischen und asiatischen Films wie des Konsums der sechziger Jahre satirisch auf. In der Mitte des Romans fällt Mishima ein, er möchte jetzt doch lieber eine Spionage-Parodie schreiben, und nun kommt auch noch ein Hauch von Woody Allen in die Geschichte.
Anmerkung des Rezensenten.
Die Japaner sind auch zu beneiden;
dieses Buch von 1968 beweist,
es gab dort in jenen Jahren ätzende
und dabei höchst unterhaltsame Kulturkritik.
Medientransformation und Medienkritik
Ich gehe davon aus, verehrter Leser, Ihnen ist das Fernsehprogramm im Fernen Osten in den sechziger Jahren bestens bekannt. Neben abendfüllenden Ritter- und Samurai-Filmen waren es vor allem schräge Gangster- und Spionage-Parodien, oft billiger Machart, an denen sich die Zuschauer in Vietnam, Korea, Kambodscha, Laos, Thailand und eben auch Japan delektierten. Mishima war nicht nur eine bekannte TV-Persönlichkeit seiner Zeit, er scheint auch selbst gern ferngeschaut zu haben, und in Leben zu verkaufen macht er sich ausgiebig über die Genrefilme seiner Ära lustig. Sie werden ihm zur Metapher einer mit Unwesentlichem angefüllten Gegenwart. Hanio flieht vor der Kultur, dem Leben, vor dem Tod; allein zu einer Flucht gehören eben auch Verfolger, und das sind hier die Yakuza, chinesische oder »asiatische« Geheimorganisationen, der japanische Inlandsgeheimdienst, feindliche Spione oder einfach nur die Tokyoter Polizei. Wer in Leben zu verkaufen allerdings nur eine Art komisches Krimi-Manga sieht, der bekommt sehr bald die philosophische Rechnung präsentiert, und die ist vernichtend.
Die Schönheit einer jungen Japanerin
„Vielleicht war es Hanios Schicksal, dass er,
kaum hatte er eine Sache überstanden,
schon wieder in die nächste Geschichte hineingeriet.
Einsame Menschen besaßen wie Hunde ein Gespür
für die die Einsamkeit anderer.
Als Reiko ihn mit ihrem noch schläfrigen,
trägen Blick angesehen hatte,
wusste er sofort, dass er es nicht mit einer gesunden,
patenten Person zu tun hatte.“ (Kap. 36)
Schnell dreht die Erzählung durch, Mishima steigert sie zu einer generellen Parodie auf die Postmoderne und bleibt damit Haruki Murakami, Ryû Murakami, Yoko Ogawa und wie die Nachfolgenden alle heißen, stets um einige Nasenlängen voraus. Neben einer für diesen Autor ganz ungewohnten Komik überrascht er uns in seinem überdrehten Roman auch damit, wie er sich hier als Lobredner zarter Mädchenschönheit und zurückhaltender Erotik präsentiert, wo er doch sonst mit sadomasochistischer Homosexualität auftrumpft. Die todesverliebte kranke Freundin Reiko insistiert Hanio gegenüber freilich auf dem gemeinsame Ziel eines Todes zu zweit à la Kleist.
Anmerkung des Rezensenten:
Es gilt nun, das Gesamtwerk von Yukio Mishima
auf Deutsch oder Englisch in einer
zuverlässigen Ausgabe bereitzustellen.
Das Œuvre sollte nicht nur die derzeit vielgelesene
japanische Unterhaltungsliteratur ersetzen,
sondern insbesondere auch die in Deutschland verbreitete.
Zentrale ästhetische und politische Ideen Mishimas
wie die sakrale Neubegründung des Reiches und des Kaisertums,
Überwindung von Amerikanismus und Konsumgesellschaft
sowie die Selbstverpflichtung einer Elite
traditionsgebundener Kämpfer erscheinen dabei durchaus aktuell.
Bruchstück einer großen Konfession
Nichts wäre falscher, als in dem vermeintlichen Roman-Slapstick einen privatistischen Ulk zu sehen, welchen der Autor sich gestattet, bevor er sein Hauptwerk, die Tetralogie Das Meer der Fruchtbarkeit, Höhepunkt und Vollendung seines Lebens, in Angriff nimmt. Leben zu verkaufen verzahnt sich in all seinen Motiven mit Mishimas anderen Romanen, Erzählungen und Stücken; auch dieser auf den ersten Blick humoristische Kurzroman ist »Bruchstück einer großen Konfession«. Yukio Mishima spielt mit der ganzen Vielfalt seiner literarischen Mittel; er steigert sich, wenn er mit seiner Epoche abrechnet, in einen geradezu surrealen Bildersturm, in dem immer wieder die traumatisierenden Erinnerungen des Zweiten Weltkriegs durchschimmern:
„Sinnlosigkeit überfällt einen nicht in der Art,
wie Hippies sich das vorstellen, sondern zeigt sich,
wenn in der Zeitung die Schriftzeichen zu wandernden Kakerlaken mutieren.
Was diese für einen Weg halten,
den sie ungerührt entlanglaufen, ist in Wirklichkeit eine Brüstung, oben auf dem Dach eines 35-stöckigen Hochhauses.
Wenn man eine Katze ärgert und sie maunzend
ihr nach Fisch stinkendes Maul aufreißt,
tun sich in dessen dunkler Höhle plötzlich
iefschwarze Trümmerstädte auf
wie die verbrannten Städte beim großen Luftangriff. „(Kap. 39)
Todessprung aus Angst vor dem Sturz
Leben zu verkaufen beginnt als Variationssatz und mündet schnell in ein Potpourri immer wieder neubegonnener Formprinzipien. Dadurch verleiht der Autor seinem Werk den Charakter einer Improvisation. Eine Reise ins Innere durch das flimmernde Großstadtlicht Tokyos, die körperliche, sexuelle Begegnung mit der auf kleinste Räume zusammengedrängten Gesellschaft, expressionistische, surreale, ja psychedelisch wirkende Bilder wechseln einander in immer schnellerer Folge ab. Der Autor scheint sich voller Wohlbehagen in der Ikonographie der Moderne zu baden, tatsächlich aber will er sie aufheben und überwinden. Sein Roman ist ein Abgesang auf die moderne Welt und ihre Medien. Die Moderne erscheint als großer Friedhof, ja die Konsumhölle wird als Verweis auf die Lager gedeutet. Sportschuhe in einem Schaufenster erinnern den Protagonisten an »Schuhe, die aussahen, als hätte man sie zahllosen Toten eines Lagers abgenommen«. Hanios Leben erscheint wie eine einzige Flucht, und mehr und mehr dämmert uns, es ist Flucht aus Angst vor dem Tod, die ihn am Anfang in den Selbstmordversuch trieb. Auch die Liebe kann die moderne Welt nur überwinden, wenn sie im gemeinsamen Tode gipfelt. »In den Großstädten ist nur Verlockung, aber nie Zufriedenheit. Hanios und Reikos Grab der Liebeslust lag inmitten dieser wirbelnden, zähnefletschenden Hölle.«
Yukio Mishima
Leben zu verkaufen
a.d. Japanischen von Nora Bierich
Kein und Aber, Zürich 2020
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