In ihrem sechsten Jahr hat die konsequent systemkritische Inszenierung von Jan Philipp Gloger noch an Bedeutung gewonnen. John Lundgren gibt die Titelpartie als innerlich entleerter Manager. Christoph Hetzer spiegelt in seinem Bühnenbild unsere sinnlose Welt von Produktion und Konsum. Axel Kober leitet das zu allem entschlossene Festspielorchester. Und wieder ruft Richard Wagner uns zu: Systemwandel oder Untergang! Von Stephan Reimertz.
John Lundgren singt im Wechsel mit Peter Grimsley in diesem Jahr in Bayreuth den Fliegenden Holländer. Sein grimmiges und dunkles gesangliches Idiom stimmt zu den Accessoires des sinnentleerten Lebens: Business-Anzug, Zahlengeflimmer, Rollkoffer, Sekretärin, Prostituierte, Geld und Drogen. Dieser Business-Class fliegende Holländer ist Täter und Opfer eines Systems, das dabei ist, den Menschen und seinen Planeten zu zerstören. Daran ließ Jan Philipp Gloger schon 2012, als seine Inszenierung von Richard Wagners Jugendwerk in Bayreuth herauskam, keinen Zweifel. Heuer spürt jeder Festspielbesucher die Folgen der globalen Verwüstung längst am eigenen Leibe. Infolge der Erhitzung des kollabierenden ökologischen Systems ist die Frage längst nicht mehr: Was ziehe ich in die Oper an? sondern: Was ziehe ich in der Oper aus?
Die Wirtschaft ist unser Schicksal
Dich frage ich, gepreisner Engel Gottes,
der meines Heils Bedingung mir gewann;
war ich Unsel’ger Spielwerk deines Spottes,
als die Erlösung du mir zeigtest an?
(1. Aufzug)
Fächer sind der Renner der Saison. In der Wiener Staatsoper werden sie seit Jahren gratis verteilt. In Bayreuth kosten sie zehn Euro. Der Begriff Wagner-Fan bekommt eine ganz neue Bedeutung. Jan Philipp Glogers Inszenierung des Fliegenden Holländers hat in seiner analytisch-apokalyptischen Anlage Recht behalten und zeigt eine Dringlichkeit, die noch über jene des Entstehungsjahres hinausgeht. Die Inszenierung führt in überzeugenden Bildern vor Augen, wie unser Wirtschaftssystem aus Menschen innerlich entleerte Produzenten und Konsumenten macht. Noch entsetzlicher als die innere und äußere Zerstörung des Menschen und seines Planeten sind Formen und Sprache, in denen das alles geschieht. Die Verheißung von Ökonomie als Befreiung, wie in der Aufklärung geglaubt, hat sich in ihr Gegenteil verkehrt. Der Bassist Peter Rose gibt den Seefahrer Daland als histrionischen mittelständischen Unternehmer, von ihm sticht Reiner Trost als heller und melodiöser Tenor ab, seine Rolle ist eine Art Management-Assistent. Der Mädchenchor unter der Aufseherin (Christa Mayer) figuriert als Trupp von Verpackerinnen. Ihr Produkt sind Ventilatoren, die einerseits auf Sturm und Wind verweisen, andererseits die Oper wieder einmal als Transformationsmedium kennzeichnen, wie schon die Umspannwerke in Neo Rauchs Lohengrin-Bühnenbild. Als Pointe seiner Inszenierung weist Regisseur Gloger lediglich ein neues Produkt vor: Statt der Ventilatoren werden nun kleine Figuren der geflügelten Senta verpackt. Niemand entkommt dem Produktionszusammenhang.
Es bleibt nur der Ausstieg
Senta steigt aus der Besessenheit des Kapitalismus aus und in die Metaphysik ein. Ricarda Merbeth, seit dem Jahre 2000 auf dem grünen Hügel zu Hause, u. a. als Freia, Elisabeth und Isolde, verfügt über eine interessante kräftige und runde, mythisch angehauchte Sopranstimme, die sogleich verkündet, wie sehr sie einer anderen Ordnung angehört als der materiellen. Ihre Senta ist Vorarbeiterin der Ventilatorenproduktion und in den mythischen Fliegenden Holländer längst verliebt, bevor sie ihn zum ersten Mal gesehen hat. Dieses Phänomen ist gar nicht selten. Senta wird getrieben von einem metaphysisch gesteigerten Helfersyndrom: Durch mich sollst du das Heil erreichen! Ricarda Merbeth transformiert die Besessenheit in Darstellung und Stimme und dürfte als eine Idealbesetzung dieser Rolle in die Geschichte Bayreuths eingehen.
Die zwei Hälften des Kugelmenschen
Auch der Fliegende Holländer hat sein Pendant vorausgeahnt:
Wie aus der Ferne längst vergang’ner Zeiten
spricht dieses Mädchens Bild zu mir:
wie ich’s geträumt seit bangen Ewigkeiten,
vor meinen Augen seh‘ ich’s hier.
(2. Aufzug)
Das könnte Platon geschrieben haben, wäre er ein deutscher Dichter des neunzehnten Jahrhunderts gewesen. Jeder findet im anderen seine eigene Anima, das Urbild. Wagner gibt auch den Nebenfiguren sehr gute Musik, den guten Menschen, die danebenstehen und die metaphysische Wucht, mit der die beiden Protagonisten ineinanderstürzen, nicht begreifen. Tenor Tomislav Mužek stellt einen hemdsärmeligen Eric dar, der ebenso wie Daland in der Sphäre der Konvention und des Materiellen befangen ist. Der Fliegende Holländer hat zwei große Schwestern, die deutsche romantische Oper und die deutsche Spieloper. Axel Kober dirigiert ein schwungvolles Festspielorchester. Man hat sich für die zweite, einsätzige Fassung entschieden mit den hegelianisch transzendierenden Schlüssen von Ouvertüre und Finale. Die harte feuerbachische Urfassung funktioniert nach Ansicht des musikalischen Direktors Christian Thielemann in Bayreuth nicht.
Beschränkte Perspektive
Jan Philipp Glogers zeigt in seiner Bayreuther Inszenierung, wie ein klassisches Werk des Musiktheaters auf gegenwärtige Verhältnisse bezogen werden kann. Christoph Hetzer trägt zu der stringenten Dramaturgie mit durchdachten und immer wieder überraschenden Bühnenbildern bei, die in die Hölle des modernen Individuums mit seinem idiotischen Leben zwischen Produktion und Konsum führen. Die einsame Masse fluktuiert durch das Universum wie elektronisches Plankton, glaubt sich auf der Suche nach Heimat und gibt sich vorderhand mit einem Heimatministerium zufrieden. Der Fliegende Holländer dagegen hat alle Illusionen von Heimat seit Jahrhunderten auf dem Meeresgrund versenkt, von wo sie immer wieder aufsteigen. Aus dem Aristokraten der Heimatlosigkeit, dem Verwandten von Schuberts Wanderer, macht die neue Produktion einen Verfluchten der Gegenwart. Es bleibt die Frage, ob man die vielen Bedeutungsmöglichkeiten, die in einer solchen Bühnenfigur stecken, nicht allzu sehr reduziert, wenn man sie auf eine einzige beschränkt.
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