Wer als Regisseur schlauer als der Autor sein will, strandet auch ohne Schiff. Trotzdem bestechen Georg Zeppenfeld als Daland und Eric Cutler als Eric im »Fliegenden Holländer« am Grünen Hügel nicht weniger als Senta Elisabeth Teige. Von Stephan Reimertz.
Eine nach der Filmschauspielerin Senta Berger benannte Realschülerin, die gern liest und phantasiert und sich dadurch innerlich aus ihren kleinstädtischen Realität an der norwegischen Küste entfernt, trifft auf einen sehr viel älteren, für sie faszinierenden Kosmopoliten, trennt sich von ihrem etwas einfach gestrickten gleichaltrigen Freund und erlebt mit ihrem neuen Geliebten die Erfüllung; dieser auch mit ihr. So würde ich, meinem einfachen Gemüt entsprechend, die Oper »Der fliegende Holländer« von Richard Wagner zusammenfassen. Der Kenner wird mir widersprechen: Gehen der Holländer und seine Geliebte Senta in der gescheiterten Liebe am Ende nicht unter? Der Komponist schrieb Anfang der 1840er Jahre eine frappante, balladeske Musik zu seinem eigenen Libretto. Diese Fassung endet hart. Er verbindet das deutsche Singspiel mit der Schauernovelle und verrät damit, mit welchem Kollegen er hier in den Ring zu steigen gedenkt: Die Walddämonie des »Freischützen« versucht Wagner mit Seemannsgarn zu übertölpeln. Da wird eifrig gesponnen, auf Teufel-komm-raus. Und das setzt Dmitrij Tscherniakow als Regisseur des 2021 in See gestochenen Bayreuther »Fliegenden Holländers« nun fort.
Zuviel Filme geguckt
Offenbar haben es dem Regisseur, der als sein eigener Bühnenbildner agiert, die Traumsequenzen in den Filmen von Ingmar Bergman angetan, vor allem in »Smultronstället« (Wilde Erdbeeren). Verständlich. Das berührt, ist unheimlich, zwingend, das kann man nicht wieder vergessen. Bei Tscherniakow freilich schaut es dann wie ein von Edward Hopper gemaltes Bauhaus-Norwegen der 1920er Jahre aus. Und zwar von Anfang bis Ende. Etwas monochrom, etwas monoton. Immerhin tut das vorherrschende Blaugrün des Bühnenbilds den Augen und dem Gemüt gut, so wie das dominante Taubenblau des Bayreuther »Lohengrins«. Doch während wir die drei Vorspiele der Schwanenoper voller Ruhe und Genugtuung vor dem geschlossenen Vorhang genießen dürfen, springt uns Tscherniakow wie ein Filmregisseur gleich mit einer Bildsequenz an. Zweimal gesehen und nicht verstanden, da hilft uns das Programmheft, welches folgendes verrät: Es handele sich, anders als in bisherigen Produktionen, um das Heimatdort des Fliegenden Holländers, in welches er zurückkehrt. In seiner Kindheit hat er hier eine traumatisierende Erfahrung gemacht. Ähnlich wie Senta warf sich auch seine Mutter, eine Grisette mit Realschulabschluss, eine Sekretärin oder Lehrerin, einem dubiosen Unbekannten an den Hals. Der wies sie nach kurzer Affäre ab. Im Dorf war sie nun geächtet, alle rückten von ihr ab. Selbst der Pfarrer wies sie von der Kirchentür. Es blieb ihr nur der Selbstmord, den Klein-Holländer mit ansah. Sie erhängte sich an einem der Giebelhäuser. Abgesehen von dem Schauspielerinnenverschleiß dieser Szene kann die erfundene Vorgeschichte auch dramaturgisch nicht das Prädikat »Besonders wertvoll« beanspruchen. Sie schränkt die Handlung in ihrer Vieldeutigkeit ein, so wie schon die Bayreuther Regie-Vorgängerin die Titelfigur auf den Vielfliegenden Holländer, den modernen Manager, einschränkte. Und wenn immer ein Filmchen über die Bühne flimmert, hat ein Regisseur den Glauben an das Theater und an sich selbst verloren. Dies kommt in der zeitgenössischen, bereits in ihrer Kindheit durch das Fernsehen fürs ganze Leben ruinierten Regiegeneration immer häufiger vor.
Alles nur Alkoholrausch?
Christian Thielemann, langjähriger Musikdirektor der Bayreuther Festspiele, hat lang und breit erklärt, warum der Vorhang während der Vorspiele und Ouvertüren geschlossen bleiben sollte. Leider haben sich seine sowohl musikalisch als auch dramaturgisch einsichtsvollen Argumente selbst auf dem Grünen Hügel noch nicht allgemein durchgesetzt. Im »Fliegenden Holländer« müssen wir während des schon musikalisch alle Aufmerksamkeit beanspruchenden Vorspiels auch noch diese stummfilmartige Zeitrafferversion der Opernhandlung ertragen, wenn auch hinter einem Gazevorhang. Cui bono? Der Dramaturgie jedenfalls nicht. Auch die dramatische und wirkungsvolle Konfrontation zweier Schiffe wird verschenkt. Alle Matrosen sitzen von Anfang an in einer spärlichen Spelunke. Der große Monolog des Holländers verkommt zum Suffdelirium. Dabei hat Thomas J. Mayer in der Titelrolle eine gewaltige Stimme und eine balladeske Erscheinung zu bieten.
Mangelnde Phantasie und Vorstellungskraft
Der »Holländer« sollte klar und deutlich inszeniert werden. Schließlich ist er die erste Wagner-Oper vieler Kinder. Übrigens: Welche Plattenaufnahme hatten Sie als Kind? Bei meinem Bayreuther Mitschnitt von 1955 mit Hermann Uhde, Astrid Varnay und Wolfgang Windgassen unter Knappertsbuschs prononcierter, balladesker, wenn man so will: holzschnittartiger Leitung habe ich mir damals eingebildet, das Knarzen des Holzhauses auf dem Grünen Hügel zu hören. Oder war es das Gespensterschiff? Bei der Frage nach Referenzaufnahmen nennt auch Thielemann diese zuerst. Doch in der derzeitigen Bayreuther Inszenierung, die heuer ins zweite Jahr geht, ist wie bei »Harry Potter« die ganze Zeit vom Zauber die Rede, nur der Zauber selbst fehlt. Etwas Phantasie, Raffinesse, Delikatesse, könnte man diesem Stück schon
angedeihen lassen. Tscherniakows Bildersturm aber wirkt vollkommen platt und abgeschmackt; »poschlost« würde man in Moskau sagen. Und natürlich geriert sich der Regisseur als Schiffsverweigerer, entsprechend diversen Schwanensparern im »Lohengrin«; selbst in Bayreuth wird dieser derzeit durch eine Heckflosse ersetzt. Nun erheischt aber die direkte Dramaturgie und deskriptive Musik im »Holländer« auch eine Konkretion im Bühnenbild. Doch am Grünen Hügel wird derzeit entrümpelt, was nützlich wäre, und verrümpelt, was entrümpelt werden sollte.
Erkennen als Wiedererkennen
Allgemein herrscht die Überzeugung vor, die zweite Fassung der Oper von 1860 funktioniere im Bayreuther Festspielhaus besser als die erste, schroffere von 1843. In einem »metaphysischen« Ende werden Holländer und Senta hier in Ewigkeit vereint. Dafür hat man sich auch jetzt wieder entschieden. Warum der Holländer am Ende drei Dorfbewohner erschießt (will er sich an Leuten aus seinem Heimatdorf rächen, denn um dieses handelt es sich in der Inszenierung), warum Frau Mary wiederum ihn erschießt, bleibt das Geheimnis der Regie. Kapellmeisterin Oksana Lyniv bietet ein flüssiges, schwungvolles Dirigat, welches den balladesken Charakter der Partitur klar herausarbeitet. An manchen Stellen, etwa in des Holländers Monolog nach den Worten: »…solang der Erde Keim’ auch treiben, so muss sie doch zugrundegehen« hätte der phantastische Charakter in den Streichern etwas mehr herausgehoben werden können. Manchmal versinken die Dirigentin und das Bayreuther Festspielorchester für kurze Momente in Mattheit, zeigen aber insgesamt viel Sinn für die musikalisch-semantischen Höhepunkte der musikalischen Erzählung. So erreicht die Musik in der Erkennungsszene zwischen Holländer und Senta äußerste Spannung. »Wie aus der Ferne längst vergang’ner Zeiten / Spricht dieses Mädchens Bild zu mir«, bekennt der Seefahrer, der hier zum Sehfahrer wird.
Eindimensionale Regie, interessante Darsteller
Kostümbildnerin Elena Zaytseva tut den Bewohnern des norwegischen Küstendorfes in diesem Hamsun-Streifen eine eher dem 19. und frühen 20. Jahrhundert entsprechende Kleidung an. Daland und Eric gehören zum Zirkus jener anziehenden Gemütsmenschen, die aber auch wenig bereit sind, die Grenzen ihres Alltagshorizonts, sei es geistig, sei es physisch zu überschreiten. Es spricht für den Komponisten, wenn er auch ihnen besonders gute Musik gönnt. Georg Zeppenfeld, der den Daland gibt, ist einer der beliebtesten Sänger der Festspiele und wurde für seine souveräne, stimm- und modulationsreiche Gestaltung stürmisch gefeiert. Elisabeth Teige als alles überstrahlende Senta erntete bei der Premiere johlenden und trampelnden Jubel des Publikums. Thomas J. Mayer stellte als Holländer wiederum unter Beweis, warum er mit seiner beherrschenden, teils furchteinflößenden Stimme ein idealer Wagner-Sänger ist. Eric Cutler gewann der Seitenfigur viel Musikalität und Darstellungsintensität ab; er wertet ihn zu einer Hauptfigur auf. Gegen einen interessanten älteren Mann hat der gleichaltrige Tölpel bei Mädchen eben keine Chance.
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