2012 nahm sich der norwegische Autor Stig Sæterbakken im Alter von 46 Jahren das Leben. Er litt an Depressionen, was ihn Zeit seines Lebens nicht davon abhielt, großartige Literatur zu schreiben. Sein Roman „Durch die Nacht“ ist nun auf Deutsch erschienen. Es ist ein sprachliches Meisterwerk. Rezension von Barbara Hoppe.
„Was auch geschehen mag, ich werde da sein und auf dich aufpassen. Wohin deine Wege dich auch führen mögen, ich werde dich beschützen. Tag für Tag und durch die Nacht“. Das ist das Versprechen, das der König seinem Sohn gibt. Der Zahnarzt Karl Christian Andreas Meyer erfand das Märchen für seinen eigenen Sohn Ole-Jakob. Doch das Versprechen, das der König gab, kann der Zahnarztvater nicht halten. Im Alter von achtzehn Jahren begeht Ole-Jakob Selbstmord. Die Frage nach der Schuld ist für Karl geklärt: Schließlich war er es, der die Familie für die 28-jährige Mona verließ. Und obwohl Karl reumütig zurückkehrt, ist nichts mehr wie es vorher war. Mit dem Todestag von Ole-Jakob zerbricht schließlich auch der letzte Rest an verkrampfter Familienidylle. Karl verlässt seine Familie ein zweites Mal. Er begibt sich auf eine Reise, die ihn bis in die Slowakei führt. Dort steht ein Haus, in dem man mit seinen Ängsten konfrontiert wird und das man entweder gebrochen oder geheilt verlässt.
Die Reise ist ein Trauerprozess, in dem Karl unweigerlich in sein tiefstes Inneres vordringt. Stig Sæterbakken ist ein Meister der Sprache und sein Übersetzer, Karl-Ludwig Wetzig, begnadet. Beobachtungen und Gefühlsregungen erfassen sie messerscharf. Hier sitzt jedes Wort. Allein das stückchenweise Abgleiten aus den familiären Bindungen hin zu Mona, die Versuchung, das schlechte Gewissen, das Begehren erzählt der Norweger atemberaubend treffsicher. Sæterbakken schildert die Anatomie eines tiefen Falls aus der Bürgerlichkeit in die Isolation und das Gefängnis der eigenen Ängste. Karl Meyer ist auf einem Horrortrip – ein Element, das sich wie die Trauer durch das Buch zieht. So ist es Boris, Freund von Karl und Autor von Science-Fiction-Romanen, der ihm das geheimnisvolle Haus in der Slowakei empfiehlt. Ein Theaterstück einer Schauspieltruppe, das Karl auf seiner Reise sieht, enthält ebenfalls schon Horrorelemente. Ole-Jakob liebte Horrorfilme und entsprechende Computerspiele. Für das Finale schließlich hält der Autor sein sprachliches Meisterstück parat: Der Gang durch das unheimliche Haus liest sich wie ein Horrorfilm.
„Durch die Nacht“ ist kein bequemes Buch. Doch wer die Sprache liebt, sollte es nicht verpassen.
Stig Sæterbakken
Durch die Nacht
DuMont Buchverlag, Köln 2019
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