Rezension von Susanne Falk.
„Geht der Bleimfeldner Karl, geht der Karl die Bahnhofstraße hinab.“ Da hat der Protagonist, der lose auf der Biografie des Großonkels basiert, in Thomas Arzt Debütroman „Die Gegenstimme“ schon vierundzwanzig Stunden aus der dörflichen Hölle hinter sich. Der junge Student, der Bub vom Schuster, er kommt zur Volksabstimmung am 10. April 1938 in sein Heimatdorf zurück und macht sein Kreuz als einziger dort, wo es sich keiner hinzuzeichnen traut: Karl stimmt gegen den Anschluss Österreichs an Nazideutschland. Er verweigert Hitler die Stimme.
Was das für Konsequenzen nach sich zieht, wenn einer in dieser so gar nicht geheimen und demokratischen Wahl, die den Bürgern eigentlich gar keine Wahl lässt, plötzlich gegen alles und jeden stimmt, davon handelt Arzts Erstlingswerk. In spröden Sätzen nimmt er uns mit und rennt mit uns atemlos von Haus zu Haus in dem Dorf, das sich allzu leicht in sein nazibraunes Schicksal ergeben möchte. Nur der Karl, im Herzen ein Austrofaschist und damit, zumindest aus heutiger Sicht, eigentlich gar kein Held, der will sich nicht ergeben. Stattdessen hetzt er durch die Geschichte, windet sich, biegt sich und bleibt am Ende doch standhaft genug, um als einziger gegen sein Dorf zu stimmen. Denn das ist es, was er wirklich tut – sich der Übermacht der Dorfgemeinschaft, aus deren Reihen keiner ausscheren darf, zu entziehen.
Da ist die Kern Cilli, die junge, fanatische Nazi-Bürgermeisterstochter, die eine muntere Hetzjagd auf den Abweichler veranstalten lässt. Der rote Abt vom nahen Kloster, der es nicht über sich bringt, sein Gewissen ad acta zu legen und schon weiß, dass er damit alles aufgibt, weil der Glaube allein nun einmal nicht genug ist. Und da ist der Seppl, der, weil es immer einen treffen muss, am Ende zum Opfer wird. Arzt zeichnet seine Figuren präzise, empathisch, wortgewaltig, trotz oder gerade wegen der vielen Auslassungen und fächert so eine Dorfgemeinschaft auf, wie es sie 1938 in Österreich überall gab und, das ist das eigentlich Erschreckende an der Sache, es sie heute wieder jederzeit geben könnte. Er tut dies so gekonnt, dass es kaum zu glauben ist, dass wir es hier mit einem Romandebüt zu tun haben. Der längst in der deutschsprachigen Theaterlandschaft etablierte Thomas Arzt zieht hier sein ganzes, in der Dramatik erworbenes Handwerk heran und schreibt damit den vielleicht besten Roman des diesjährigen Literaturfrühlings. So eigen im Stil, so unverkennbar hat sich noch selten ein Erstlingsautor dem Lesepublikum vorgestellt. Thomas Arzt schafft hier etwas, das nur ganz wenigen Autoren gleich auf Anhieb gelingt: Er kreiert seine eigene Marke. Das schreit geradezu nach einem bedeutenden Buchpreis.
Bleibt zu hoffen, dass Arzt neben der Dramatik (ein neues Stück wird im Herbst 2021 am Wiener Theater in der Josefstadt Premiere feiern) auch Zeit für weitere Prosa finden wird. Auf eine so starke Stimme wird die Literaturwelt in Zukunft nicht mehr verzichten können geschweige denn wollen.
Thomas Arzt
Die Gegenstimme
Residenz Verlag, Wien/Salzburg 2021
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