Von Stephan Reimertz.
Neben Hans-Dietrich Genscher ist er der bekannteste Hallenser, außer Hans Holbein und Ralf Dahrendorf der berühmteste Deutsche in England. Aber was macht Georg Friedrich Händel bei den Salzburger Pfingstfestspielen, die in diesem Jahr Rom gewidmet sind?
Wer die Via del Corso Richtung Piazza Venezia spaziert, kommt gegen Ende an den Palazzo Doria-Pamphilj. Das alte Adelsgeschlecht haust noch darinnen. Zu bestimmten Zeiten ist das Haus zu besichtigen. Der Besucher wird gewahr, wie sehr es eine Familie und ihre Geschicke auf Jahrhunderte prägt, wenn ein Familienmitglied Papst, Seliger oder Heiliger ist. Papst Innozenz X., Giovanni Battista Pamphilj, ist hier immer noch anwesend, sei es in dem Porträt von Velázquez, welches in einem eigenen Kabinett hängt, sei es in der Bildnisbüste von der Hand des Bernini, ebenfalls im Familienbesitz, oder in dem zur Wand gedrehten Sessel in einem Empfangssaal. Eine solche Geste symbolisiert die Abwesenheit des Papstes, und sie hält nun seit fast 370 Jahren an. Dessen Großneffe Benedetto Pamphilj war Kardinal, Komponist und Librettist und schrieb 1707 für den in Rom weilenden Georg Friedrich Händel ein philosophisch-allegorisches Libretto mit dem Titel Il trionfo del Tempo e del Disinganno – Der Triumph der Zeit und der Ernüchterung.
Edler Klang, herabgestimmt
Pamphilj beschreibt das innere Drama der Seele, welche sich zunächst an die äußeren Reize, ihre eigene Schönheit und den Glanz der Welt verliert, dann aber nach Phasen des Ungenügens und der Depression, der Ernüchterung, das Weltliche abzustreifen vermag und den wahren Reichtum auf dem Weg zum Guten, zu Gott findet. Da der eingängige Text, der zahlreiche klassische Formulierungen seelischer Zustände enthält, religiös, aber zugleich auch rein philosophisch verstanden werden kann, ist eine Aufführung des Oratoriums sowohl in kirchlichem wie auch in weltlichem Rahmen möglich. In Salzburg wären die Alte Universitätsbibliothek, die Große Aula oder der Dom ideale Aufführungsorte. Am besten freilich wäre es gewesen, das zur inneren Einkehr gedachte Oratorium draußen vor der Stadt in der von Fischer von Erlach gebauten Wallfahrtsbasilika Maria Plain aufzuführen, zu der Zuhörer sich hinbegeben müssen. Das »Haus für Mozart«, in welchem die Aufführung tatsächlich stattfand, ist nicht zu retten. Der Raum wirkt dämpfend, herabstimmend auf den Klang. Kapellmeister Gianluca Capuano und Les Musiciens du Prince aus Monaco sind ohnehin keine Temperamentsbolzen. Hier ergab sich eine herabdämpfende Wechselwirkung zwischen Raum und Orchester. Freundlich ausgedrückt wird man den Klang als perlmuttern bezeichnen, was gar zu dem In-sich-gehen der Seele stimmt, die das spirituelle Oratorium von seinem Zuhörer fordert.
Oper der Seele, inneres Drama
Georg Friedrich Händels erstes Oratorium ist ein Meisterwerk, das viel zu selten aufgeführt wird. Seine Ikonographie ist ganz der vanitas gewidmet, steht damit in ältester philosophischer Tradition und erfüllt zugleich jene letzte Stunde des Barock, in welcher der Maestro aus Deutschland sich in Rom befand. Wir haben es mit einer Oper der Seele zu tun, einem dramma per musica, in dem das Drama ganz ins Innere hineingenommen ist, ohne Chöre und allein bestehend im Wechsel von Duetten, Quartetten, Secco- & Accompagnato-Rezitativen und da-capo-Arien, jeweils zwei Flöten, Oboen und Celli, drei Violinen und Viole, sowie Kontrabass, Cembalo und Orgel. Lieber hätte man es sich auf den harten Kirchenbänken des Doms zu Gemüte geführt als in dem auch architektonisch fragwürdigen »Haus für Mozart«, das an einen evangelischen Gemeindesaal erinnert. Il trionfo del Tempo e del Disinganno nimmt jeden Zuhörer mit auf die Reise in sein eigenes Innere. Allegorische Figuren – wie in Salzburg aus dem Jedermann bekannt – geleiten die Seele auf der anspruchsvollen Wanderung der Selbstbefragung. Charles Workman, am Vorabend auf derselben Bühne als Titus zu sehen und zu hören, gibt die Zeit, die gnadenlos verstreicht. Der amerikanische Countertenor Lawrence Zazzo verkörpert den Disinganno, also die Ernüchterung selbst; seinem artistischen Niveau konnten sich die Hörer ebensowenig entziehen wie Mélissa Petit als Bellezza und Cecilia Bartoli als Piacere. Im Zusammenspiel mit einem gesammelten, konzentrierten Orchester brachten uns Pfingstbesuchern die Weltklasse-Sänger ein Oratorium dar, welches sich als dem hohen Feiertag angemessen erwies.
Was soll das?
Doch leider beließ es die Produktion nicht dabei, sondern stülpte dem spirituellen Oratorium eine Schauspielhandlung über, die man nur als albern, oberflächlich, abgeschmackt, peinlich, unkultiviert und monoton bezeichnen kann. Für den spießbürgerlichen Klamauk zeichnete der Kanadier Robert Carsen verantwortlich, welcher ebenso wie sein Landsmann Robert Lepage vor sechs Jahren in der Wiener Staatsoper in der Inszenierung der völlig überflüssigen Oper The Tempest von Thomas Adès ein Brimborium aufführte, das bestenfalls als Matura-Ulk in Winnipeg durchgeht. Wie alle Regisseure, die mit dem Theater nichts anfangen können – man denke nur an die letzte Bayreuther Neuproduktion, den Tannhäuser in die Regie von Tobias Kratzer (https://feuilletonscout.de/der-neue-tannhaeuser-bei-den-bayreuther-festspielen/) – springt uns auch der Regisseur dieser Veranstaltung gleich zu Beginn mit einem Filmchen an. In dem Streifen, welcher der Ästhetik einer Deodorant-Reklame entspricht, fährt eine Gruppe junger Leute zu einem weekend-Pläsier, etwa die Studienstiftung in die Sommerakademie, nur handelt es sich hier nicht um das Romantikhotel Böglerhof in Alpbach, sondern um Schloss Leopoldskron in Salzburg. Auch dürfen die Ausgelassenen ins Salzburger Paracelsusbad, welches für uns Normalsterbliche derzeit geschlossen ist. Offenbar wird hier eine Fernsehsendung parodiert; da ich noch nie in meinem Leben ein Fernsehgerät besessen habe, kann ich Ihnen leider nicht sagen, welche. Es geht um eine Art Mannequin-Wettbewerb. Bellezza Mélissa Petit ist eine Kandidatin, Cecilia Bartoli die Managerin.
Was Eltern daraus lernen können
Tu del ciel ministro elettonon
vedrai più nel mio petto
voglia infida, o vano ardor.
E se vissi ingrata a Dio,
tu custode del cor mio
a lui porta il nuovo cor.
– Aus dem Libretto von Kardinal
Benedetto Pamphilj
Eltern werden angesichts dieser verheerenden Verkitschung eines spirituellen Oratoriums wiederum gewarnt, wie gefährlich Fernsehen für ihre Kinder ist, wie langfristig die Folgen kindlichen TV-Konsums. Dies gilt leider nicht allein für das offensichtlich bildungsferne und kulturfremde Milieu von Kanada, sondern leider auch bei uns. Nicht nur die Kanadier Carsen und Lapage, auch der Deutsche Kratzer sind vermutlich tv-geschädigt und kommen auch als Erwachsene vom Bildschirm nicht mehr los. Zudem verblüfft die Chuzpe von Carsen, mit dergleichen in Salzburg aufzuwarten. Dreiundzwanzig Jahre nach dem Tod von Jean-François Lyorard will uns der Kanadier noch einmal Postmoderne präsentieren, doch was er vorführt, ist nicht einmal camp, sondern reiner Kitsch. Und das mit naiv-kokettem Augenaufschlag. Eltern können den Abend nur als Warnung ansehen, ihren Kindern am besten ein Aufwachsen in einem Haus ohne Fernsehgerät, dafür mit Musikunterricht und sinnvollen Beschäftigungen zu ermöglichen und sie später auf solide Schulen zu geben, wollen sie nicht ihre Kleinen eines Tages als Regisseure solcher Platitüden erleben. Um dieses unpfingstliche, unsalzburgerlische Spektakel zu charakterisieren, eignet sich am besten der russische Begriff »Poschlost« (пошлость – das schwer übersetzbare Wort bedeutet etwa Mittelklassen-Anmaßung, Banalität oder Spießbürgertum). Wir haben schon begriffen: Die Fernsehästhetik und Modewelt sollen die vanitas verkörpern. Bei der »Mode« handelt es sich hier freilich eher um Fummel aus dem Abverkauf in der Wiener Mariahilferstraße. Man kann das Spektakel auch »von links« kritisieren: Die Produktion verfällt restlos jenem Warenfetischismus, den zu kritisieren sie vorgibt.
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