Von Ingobert Waltenberger.
Der 24-jährige Bruce Liu gewann 2021 den alle fünf Jahre stattfindenden Chopin-Wettbewerb, eine Art olympischer Disziplin für die besten aller besten Tastenvirtuosen. Nach dem Sieg des Koreaners Seong-Jin Cho 2015 musste die für 2020 anberaumte Austragung wegen der Pandemie um ein Jahr verschoben werden. Im Herbst 2021 traten 87 Pianisten, aus 500 Bewerbern ausgewählt, in Warschau gegeneinander an. Jetzt ist der Sieger ein gemachter Mann. Und ohne jede Übertreibung: Das, was wir zu hören bekommen, ist in jeder Hinsicht spektakulär, aber das glatte Gegenteil von dem, was landläufig damit gemeint ist.
Bruce Liu ist nämlich in erster Linie ein ganz feiner Musiker, der die ach so herzerwärmend schönen Chopin’schen Eingebungen (Andante spianato in G-Dur), seine sehnsuchtsvollen Melodien in einfachster Manier mit Zauber und Charme erfüllt. Alle stupende Technik, das unglaubliche Können wird nie zum vordergründigen Showcase, zur Parade des “Seht ma her” und noch weniger zur im 19. Jahrhundert so gepflegten und bis heute nachwirkenden dionysischen Verlustigung an dunkler Verführung. Liu ist nobler Artist, dem Licht zugewandt, ein wendiger Akrobat ohne Blick aufs Netz, der noch die halsbrecherischsten Stücke (Étuden Op. 10/4 Presto und Op. 25/4 Agitato) mit unglaublicher Eleganz und Nonchalance absolviert.
Dabei besteht immer der Eindruck, Liu fühlt sich wohl wie der Fisch im Wasser, obwohl wir ja Zeugen eines gnadenlosen Wettbewerbs sind. Die Aufnahmen aus der Warschauer Philharmonischen Konzerthalle sind ja nichts weniger als harte Prüfungen, live ungeschnitten, und dennoch von einer schlafwandlerischen Sicherheit und jugendlichen Leichtigkeit. Entspannt, ein Lächeln um die Lippen, ist dieser Pianist – so scheint’s – wirklich von allen Musen geküsst.
Bruce Xiaoyu Lius Anschlagsbandbreite, die von feenhaft pianissimo formulierten “Nicht von dieser Welt”-Phrasen (etwa im ‚Larghetto‘ der Nocturne in cis-Moll, Op. 27/1) bis zu einem knackigen, stets noch rundem Forte reicht, ist meisterlich. Pure Poesie, lyrische Versenkung, dann wieder tänzerischer Schwung ohnegleichen. Selbst in der “Grande Polonaise brillante” in Es-Dur, genauer im ‚Allegro Molto‘ verdonnert Liu nichts, sondern erzeugt höchste Spannung mit raffinierten Diminuendi und exquisit gestreuten Rubati.
Den Höhepunkt des Albums bilden vielleicht Chopins fünf Variationen samt Introduktion, Thema und Coda über “Lá ci darum la man” aus Mozarts Oper “Don Giovanni”.
Aber schnuppern Sie doch selbst, etwa mit der Étude in C sharp minor, Op. 10 No. 4 (18th Chopin Competition, first stage)
Oder die Finalrunde mit Orchester:
Bruce Liu spielt auf einem Fazioli Flügel. Immer mehr Pianisten – wie Boris Giltburg in seiner wunderbaren Neueinspielung aller Beethoven Sonaten – entdecken die klanglichen und spieltechnischen Vorzüge dieses italienischen Fabrikats gegenüber den doch schwerfälligeren und dicker klingenden Steinways.
Anmerkung: Das Livealbum setzt die traditionelle Zusammenarbeit von Deutsche Grammophon mit dem Chopin-Institut fort. Das Gelblabel hat schon zuvor gemeinsam mit dem Chopin-Institut zusammengearbeitet. 2015 wurden etwa die Livemitschnitte von Seong-Jin Cho, Sieger des 17. Internationalen Chopin-Klavierwettbewerbs, auf CD gepresst. Sehen lassen kann sich die Liste der bisherigen Siegerinnen und Sieger des Chopin- Wettbewerbs, u.a. Maurizio Pollini, Martha Argerich, Krystian Zimerman oder Rafał Blechacz. Was in Anbetracht der historisch stets hochkarätigen Jury ein einzigartige Auszeichnung darstellt. Da wirkten im Lauf der Jahre immerhin Persönlichkeiten wie Wilhelm Backhaus, Arturo Benedetti-Michelangeli, Nadia Boulanger, Witold Lutosławski, Krzysztof Penderecki, Maurice Ravel, Artur Rubinstein oder Karol Szymanowski bei der gestrengen Notengebung mit.
Bruce Liu
Chopin
Deutsche Grammophon (Universal Music), 2021
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