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Geheimnisvolles Kamtschatka: Julia Phillips „Das Verschwinden der Erde“

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LiteraturRezension von Barbara Hoppe.

Kamtschatka ist eine Halbinsel in Nordostasien am äußersten Zipfel Russlands. Hier leben rund 300.000 Menschen, die meisten von ihnen in der Hauptstadt Petropawlowsk-Kamtschatski. Kaum vorstellbar, dass es eine junge Amerikanerin in diese entlegene, dünn besiedelte Gegend zieht. Und doch hat es die in New York lebende Autorin Julia Phillips dorthin verschlagen. Über ein Jahr verbrachte sie in der Region, die – von wilder Landschaft geprägt – über den Landweg kaum zu erreichen ist, um für ihren beeindruckenden Roman „Das Verschwinden der Erde“ zu recherchieren. Zehn Jahre sollte es dauern, bis das fertige Romanwerk 2019 in den USA erschien und nun auch auf Deutsch vorliegt.

Ein Werk, das überraschender, aufrüttelnder, ja, fast verstörender, kaum sein könnte. An einem warmen Augusttag lässt Julia Phillips die Schwestern Aljona und Sofija Golosowski spurlos verschwinden. Der Leser wird Zeuge dieses Vorgangs, es gibt sogar eine Frau, die einen Mann und einen schwarzen Wagen gesehen hat, doch was aus den Kindern wird, erfährt er zunächst nicht.

Frauen und eine heimliche Hauptrolle

So vergehen kapitelweise Monat um Monat nach dem Verschwinden der Schwestern und jeder ist einer Frau gewidmet. Frauen, die sich in einer von Männern dominierten Welt arrangiert haben. Da ist die Studentin Ksjuscha, die zwar in der großen Stadt studieren darf, aber von ihrem Freund aus der Ferne eifersüchtig kontrolliert wird. Oder Alla Innokentewna, deren jüngste Tochter einst ebenfalls spurlos verschwand. Ob Soja, die mit ihrer Rolle als Mutter hadert, das Schulmädchen Olga oder Nadeschda, die mit ihrer kleinen Tochter Kamtschatka am liebsten verlassen würde – sie alle erfahren mal mehr, mal weniger starke Demütigungen, Kontrolle und Erniedrigungen. Immer wieder mäandern sie unter dem Radar ihrer eigenen Wünsche und Träume, lose verbunden über das stets präsente Rätsel um die verschwundenen Schwestern.

Cover: dtv Verlag

Gleichzeitig nimmt die Autorin ihre Leser an die Hand und führt sie durch einen Landstrich, in dem man mit einem kühnen Blick das Rathaus, die leuchtenden Hügel und den Vulkan erfassen kann, während sich auf der anderen Seite ein Kiesstrand in die Bucht hinabsenkt und die Sonne die schlechten Straßen der Hauptstadt aufweicht.

So gelingt es Julia Philipps ganz nebenbei, dem eigentlichen Protagonisten des Romans ein Gesicht zu geben: Kamtschatka, seine raue Landschaft und seine traurigen Straßen zwischen Plattenbauten und Holzhütten, zwischen Volkstanz und der fernen Macht Moskau, zwischen Ureinwohnern und Russen, ist der heimliche Star dieses Romans. Jede Frau und ihre Geschichte sind ein Steinchen in dem faszinierenden Kaleidoskop einer fremden Welt, die zwar im 21. Jahrhundert zu finden ist und doch unendlich weit weg scheint. Die vielen Jahre der Recherche zeichnen sich aus: Prall gefüllt mit Wissen um das Land, schreibt Julia Phillips ein dicht gewebtes und wohl strukturiertes Porträt Kamtschatkas und seiner Bewohner. „Das Verschwinden der Erde“ ist ein beeindruckender Debütroman, der 2019 zurecht auf der Shortlist für den National Book Award stand.

Julia Phillips
Das Verschwinden der Erde
dtv Verlag, Frankfurt 2021
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Bei Thalia

Dieser Artikel erschien am 6. März 2021 in DAS WOCHENENDE! der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Frankfurter Neuen Presse und Frankfurter Rundschau.

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