Von Barbara Röder.
Nicolas Brieger inszeniert zum Auftakt der Internationalen Maifestspiele Wiesbaden „Die Sache Makropulos“ und „Aus einem Totenhaus“ als berührende Fabeln und elektrisierendes Gleichnis über verrinnende Lebenszeiten, die Einsamkeit und das Unbehaustsein des modernen Menschen. Weltweit zum ersten Mal werden die beiden Spätwerke Janáčeks als glaubwürdiges Opus magnum an einem Tag erlebbar gespielt. Ein kluges, Sinn machendes Experiment, das Weltinnenräume des Sehens und Hörens öffnet, den Raum zur Zeit werden lässt.
„Eine 300 Jahre alte Schönheit – und ewig jung – aber nur ausgebranntes Gefühl in ihr! Brrrrr! Eiskalt!“ (Leoš Janáček)
Es gibt immer ein Davor und ein Danach. Ein Immer, das bleibt in aller Leben: als Traumata oder glücksverheißende, glutvolle Erinnerungssplitter, die einschlagen können wie Granaten. Bei Emilia Marty, Operndiva und Verführerin, die sich seelisch und emotional ausgezehrt fühlt, währt dieses Immer schon 337 Jahre. Was war geschehen?
Einst hieß Emilia Elina. Ihr Vater Hieronymus Makropulos, Leibarzt und Alchimist von König Rudolf II. braute um 1685 ein lebensverlängerndes Säftchen. Dieses wurde an der jugendlichen Elina ausprobiert. Seither streift Elina als Grande Dame der Opernwelt mit wechselnden Identitäten, welche mit den Anfangslettern E. M. beginnen, durch Raum und Zeit. Den gewaltsamen Übergriff überlebte sie. Die Erinnerung daran brannte sich unauslöschlich in ihre Seele. Das brutale Einflößen des vermeintlichen Wunderelixiers eröffnet die nächtliche Szenerie im Staatstheater Wiesbaden. Elina liegt zusammengekauert am Boden, reckt und wehrt sich gegen den Übergriff auf Leib und Leben. Ihr Schlund brennt. Ein Leben lang. Dazu donnern aufgeregt brachial pochende Schläge aus dem Orchesteruntergrund. Kurz danach hetzten drei goldene Turmbläser des Prag der Spätrenaissance zum Sound von Trompete und Hörnern durch den Bühnenraum (Choreografie: Valentí Rocamora i Torà, Bühne: Raimund Bauer). Ein mächtiger, grauschwarzer Propeller, die Turbine des ewigen Lebens kreist. Bedrohung pur! Rabenschwarze Schattengeister, als seien sie von Alfred Kubin entworfen, winden sich, zucken und tänzeln umher. Elina wird mit den geselligen Nachtmahren die nächsten 300 Jahre leben. Cut.
Hohe graue Aktenschränke rollen herein, bäumen sich nebeneinander auf. Die Prager Kanzlei von Rechtsanwalt Dr. Kolenatý gibt sich die Ehre. Neben dem Streit um ein altes Testament, in welchem sich das Rezept für das lebensverlängernde Elixier befindet, das die Operndiva um jeden Preis ergattern will, geht es in „Die Sache Makropulos“ um Fragen, die uns alle nachsinnen lassen: „Wollen wir ewig leben? Um welchen Preis? Wie fühlt sich das an?“ Jetzt treffen wir auf Emilia. Janáčeks „Eisige“, mit kaltem Herz, welche alles daran setzt, das Rezept, das sie ihrem Geliebten schenkte und das dieser an sein Testament heftete, wiederzubekommen. Emilia fühlt sich elend. Ihre Kräfte lassen nach. Sie erleidet Schwächeanfälle. Und sie steht vor der Entscheidung: Soll ich 300 weitere Jahre leben oder endlich Frieden finden? Wird das mich zerstörende Trauma ausgelöscht sein im Danach? Nach dem Tod? Diese inneren Vorgänge, das Ödland ihres Daseins sehen wir. Denn Regisseur Nicolas Brieger vermag elektrisierend die inneren und äußeren Befindlichkeiten der Protagonisten mit musikimmanenten Gesten und Blicken zu verknüpfen. Leoš Janáčeks „Die Sache Makropulos“ öffnet sich so zum „Weiten Land“, zum zu tiefst menschlichen, lebendigen Seelentableau, das berührt.
In Emilias Künstlergaderoben-Boudoir im zweiten Akt liegen ihr nicht nur eine silberne Riesenechse, sondern alle Herren, Anwälte und deren Söhne zu Füßen. Dass das silbrige Ungetüm rot lackierte Nägel hat, verweist mit einem Augenzwinkern vielleicht ein wenig auf den Ursprung: die surreale Story von Karel Čapeks, die als überdrehte Komödie „Věc Makropulos“ in Prag über die Bühne ging. Wiesbaden hat für diese höchst beglückend schöne Inszenierung exzellente, spielfreudige Sängerdarsteller aufzuweisen.
Allem voran fasziniert die Sopranistin Elissa Huber mit klangintensiver, schmissiger überschäumende Bühnenpräsenz. Ihr faszinierendes, in die Tiefe gehendes Porträt der traurig fast depressiven, sarkastisch verzweifelten Elina Marty, begeistert. Besonders intensiv glaubwürdig erscheint die Begegnung Emilia Martys mit ihrem alten Lover Hauk-Šendorf, den der Tenor Ralf Rachbauer urkomisch gestaltet. Um das einstige Liebespaar steht die Zeit still. Sie wird eingefroren. Diese heiße, vergangene Liebe, die in Spanien loderte, taucht Janáček sicherlich amüsiert in Kastagnettenschluchzer. Wie aus einer Zeitreise (Raumschiff Enterprise lässt grüßen) taucht Emilia wieder in der Jetztzeit 1922 auf. Geträumt, ersehnt? Damals oder eben passiert? Sie weiß es nicht, da alle Zeiten in ihr verborgen ineinanderfließen. Ein genialer Einfall! Als Krista, eine angehende Opernsängerin, besticht Fleuranne Brockway. Sie singt mezzowarm mit Verve und verbrennt zum Schluss das Rezept des ewigen Lebens. Emilia ist gerettet, darf sterben. Aus dem vorzüglichen Ensemble ragen Jiří Sulženko (Jaroslav Prus) gesungen mit bassiger Klarheit und Spott und der fein tönende, sich in Geldnot befindende Albert Gregor von Aaron Cawley, der den Selbstmord seines Sohn Janek (Gustavo Quaresma) ertragen muss. Auch er hat Emilia unglücklich geliebt. Die übrigen Ensemblerollen weisen Frische und Spontanität auf: der Bassbariton Darcy Carroll als Rechtsanwalt Dr. Kolenatý, Tenor Erik Biegel als übergenauer (Sollizitator) Vitek, der plaudernde Bassbariton Mikhail Biryukov (Theatermaschinist) und die quirlige Mezzosopranistin Romina Boscolo (Kammerzofe / Aufräumfrau).
„Menschen aus purem Gold“ (Leoš Janáček)
Janáčeks Dostojewski-Oper ’Aus einem Totenhaus‘, nach dessen Tod 1928 erst 1930 in Brünn uraufgeführt, gleicht einem musikdramatisch aufwühlenden Oratorium. Als Oper ohne Handlung offenbart sie die beängstigenden Daseinszustände und immer gleiche ausweglose Seelenbefindlichkeiten russischer Häftlinge. Klageschreie schnellen aus dem Orchester empor, tiefe und gespreizte hohe Klänge schleudern uns entgegen. Es ist, als ob leidende Körper sich aufbäumen, um Licht zu atmen.
Dirigent Johannes Klumpp zeichnet dies mit Behutsamkeit, kenntnisreicher Beharrlichkeit und naturalistischem Klangfarbenspürsinn nach. Das Hessische Staatsorchester Wiesbaden folgt wachsam und spielintensiv. Mit Astralfarben aufgeladen tönen die Soloinstrumente: die fett vibrierende Sologeige, krächzend-ächzende Klarinetten, düstere Hörner oder das bedrohlich an ‚Knochenmannmusik‘ erinnernde Kinderrassel-Xylophon. Die grauen Aktenschränke der Kanzlei Kolenatý verwandeln sich nun in das Archiv einer Zeitung, danach in die Aufbewahrungskartei eines Gulag. Ein Strafgefangenlager in Russland. Auf der Rückseite der Karteikästen prangen die vergrößerten Fotos der Mörder, Diebe oder politischen Häftlinge. Allesamt sind sie Kreaturen, die „den göttlichen Funken“ in sich tragen. (Leoš Janáček) Gefängnisse und Folterkammern der Welt sind austauschbar, ebenso der Stacheldraht, den wir auf der Bühne gewahr werden.
In der Inszenierung von Nicolas Brieger nimmt ein riesiges Walskelett neben der schwarzen, sich drehenden Turbine Raum ein. Raimund Bauer kreierte diese zeitlose, bedrohlich wirkende Bühnenraumstrafkolonie ebenso wie die Bühnenräume zur „Sache Makropulos“. Die grauen Kostüme und das herrliche Adlerkostüm, das Stella An trägt, sie hat die Doppelrolle der Dirne und des stummen, leidenden Adlers inne, entwarf Andrea Schmidt-Futterer. Schon in der ersten Oper des Tages „ Die Sache Makropulos“ überraschte Schmidt-Futterer mit fantasievoll schlichtem Kleiderwerk einzelner Epochen. Beschaulich und äußerst interessant gerät die Szene, in welcher die Gefangenen Theater spielen. Die Flucht ins Spiel beflügelt die „lebendig Toten“. Das derb aktionsreiche Possenspiel von „Kedril und Don Juan“ und die Pantomime über das Liebesleben einer schönen Müllerin wird von illustren Guckern beäugt. Sie erinnern an Maxim Gorkis Theaterstück “Sommergäste“ von 1904. In aristokratisch feine, cremefarbene Roben des zaristischen Russland gehüllt, streifen sie neugierig unter den Hohlräumen des aufgebäumten weißen Walskeletts umher. Das ist ein Einfall!
Eine jede Geschichte eines Gefangenen, die eindringlich und ausdrucksstark gesungen erzählt wird, ist bedeutsam für alle und für den Einzelnen, der sie imaginiert. Sie wandelt als traumatisches Erlebnis und überlebenswichtige Selbstreflexion auf dem ihr eigenen schmalen Grat der Wirklichkeit. In ihr wird ein jeder Insasse zum Menschen, bekommt ein Gesicht in der grauen Masse. Das zeigt die ausgefeilte Personenregie Briegers, der wie ein Seelenseismograf die Charaktere aufzuspüren weiß. Wir fühlen mit Menschen, die sich durch das vibrierende Schildern ihrer Tat auf ihren inneren, sich selbst verzehrenden Glutkern der Zeit hinbewegen, um darin zu verglühen. Immer wieder und wieder. Dies verbindet Emilia Marty aus Věc Makropulos“ und die Häftlinge ohne Zukunft. Ein formidables Ensemble, einige in Doppelrollen besticht auch hier im „Totenhaus“, das Janáčeks nach der gleichnamigen Erzählung von Dostojewski benannt hat und durchpulst ist von seiner Liebe russischen Literatur (er verfasste das Libretto) und zur mährischen, ja tschechischen Sprechmelodie.
Julian Habermann gibt mit weicher, inniger Brillanz den jungen, ja naiven Häftling Aljeja. Seine liebende Zuneigung zu Gorjantschikow, der ihm das Lesen beibringt, ist aufrichtig dargestellt. Betörend süß klingt der Sopran von Stella An (Dirne). Drei Monologe ragen aus der hoch konzentrierten, emotional aufgeladenen Ensembleleistung heraus: der von Skuratov, Filka und Schischkow. Samuel Levine (Skuratov) schildert insistierend mit schönem Tenor den Mord am Zwangsverlobten seiner großen Liebe Luisa. Luka (Filka), der einen sadistischen Offizier tötete, wird leidenschaftlich von Aaron Cawley gesungen. Claudio Otelli gestaltet rau aber klar und intensiv die Erzählung des Mörders Schischkow. Otelli bietet eine psychologisch gut austarierte Fallstudie, die Schaudern lässt in ihrer bitteren, musikalisch derben Genauigkeit.
Nicolas Brieger verwehrt uns den utopischen Schluss, den der Visionär Janáček und der aus dem Straflager entlassene Dostojewski ersannen: dass sich die Freiheit im Symbol eines Adlers verkörpert, emporschwingt und dass der Dichter in eine Zukunft aufbricht. Diese Utopie besteht nur als Traum und als Projektion eines die Flügel ausbreitenden Adlers. (Video: Stefano Di Buduo). Brieger, der uns das Publikum als Partner, als Weggefährten tief hinein in den Kosmos, die Erlebniswelten Leoš Janáček geführt hat, zeigt konsequent die Willkür totalitärer Systeme. Der Dichter wird erschossen, der Adler als gerupfte Kreatur geopfert. Die Endzeit ist gekommen.
Die diesjährigen Internationalen Maifestspiele Wiesbaden, welche unter dem Motto „Flieg, Gedanke, auf goldenen Schwingen“ (Zitat aus dem Gefangenen-Chor der Oper Nabucco) stehen, sind allen politisch Gefangen weltweit gewidmet. Dass zur Doppelpremiere kaum ein Politiker den Weg ins Staatstheater fand, um die zeitgeistig brisanten Inszenierungen zu erleben, spiegelt exemplarisch den Stellenwert der Kultur allerorts und in der beschaulichen Landeshauptstadt Hessens wider. Kultur sollte als Lebensqualität begriffen, gelebt, vorgelebt werden und nicht nur in schönen Reden heraufbeschworen.
Epilog
Die raue Wirklichkeit umarmen, wie es der Poet Arthur Rimbaud nach seiner persönlichen Hölle im Gefängnis als Überlebensfazit fordert, heißt lieben. Wir sollten dies für jene tun, deren Geschichten wir gerade erlebt haben. Denn diese sind wahr, brutal, von existenzieller Sprengkraft, die uns angeht. Beide pausenlose Dreiakter, die hintereinander aufgeführt in ihrer kammerspielartigen Intensität immense Sogkraft entwickeln, wurden in dieser Form noch nie gegeben. Sie sind ein enormer Glücksfall für die Internationalen Maifestspiele Wiesbaden.
Warum die beiden Janáček-Opern in zusammenhängender Form nur einzeln gespielt werden nach dieser Doppelpremiere und nicht in der nächsten Spielzeit 2023/2024, die unter dem Motto „Letzte Werke“ steht, aufgenommen wurden, bleibt ein Rätsel. Denn Nicolas Brieger erweist mit seinem formidablen Regieteam und den herausragenden Sängerdarstellern, die in beklemmender, passionierter Schilderungspräsenz agieren, dem musikdramatischen Spätwerk Janáčeks einem Festival würdige, zukunftweisende international beachtete Hommage. Begeisterte Ovationen!
Internationale Maifestspiele Wiesbaden
noch bis zum 31. Mai 2023
In the Ember of Time : Acclaimed Leoš Janáček Double Premiere in Wiesbaden
The Leoš Janáček double premiere of „The Makropulos Case“ and „From the House of the Dead“ at the International May Festival in Wiesbaden is celebrated by Nicolas Brieger as poignant fables and electrifying allegories about the fleeting nature of life, the loneliness, and the rootlessness of modern humans. These two late works of Janáček are being performed on the same day for the first time, offering a credible opus magnum experience. The productions open up inner worlds of seeing and hearing, creating a space for time to unfold. The story revolves around Emilia Marty, an opera diva who has been living for 337 years and now seeks peace or another 300 years of life. The productions, directed by Nicolas Brieger, skillfully blend internal and external emotions of the characters through music and gestures. The performances feature talented singers, including Elissa Huber as Emilia Marty and Ralf Rachbauer as Hauk-Šendorf. The second premiere, „From the House of the Dead,“ is a musically stirring oratorio-like opera that depicts the existential conditions of Russian prisoners. The production, also directed by Brieger, features a timeless and threatening stage design by Raimund Bauer. The ensemble cast delivers impressive performances, with notable contributions from Julian Habermann, Stella An, Samuel Levine, Aaron Cawley, and Claudio Otelli. The productions explore themes of life, death, and freedom, leaving a lasting impact on the audience. However, Brieger’s interpretation avoids the utopian ending envisioned by Janáček and Dostoevsky, presenting freedom and the poet’s future as dreams and projections rather than tangible realities.
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