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Lebenslust und Seelenschmerz: „War & Peace – 1618:1918“

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Rezension von Ingobert Waltenberger.

„Wei ick zuhause viel jehungert habe, gab schließlich ick der heiljen Kunst mir hin – tach, tach, tach stolz nenn ick mir ,Das Mädchen aus dem Jrabe‘, jenannt ,Fakira‘ Hungerkünsterlin.“ Die Hungerkünstlerin/Friedrich Holländer

Nicht nur Battaglien, also musikalische Schlachtengemälde, oder klangvolle Beschwörungen der Wonnen von Frieden werden auf diesem Doppelalbum gefeiert. Es ging Wolfgang Katschmer, dem Leiter des Berliner Ensembles „Lautten Compagney“ und der wundersamen Sopranistin Dorothee Mields um nicht weniger, als ein Lebensgefühl in mörderischen Krisenzeiten mit Instrumenten und Gesang in all ihrer emotionalen Ambivalenz von überschäumender Lebenslust bis vernichtendem Seelenschmerz auszuloten. Musikgeschichtlich wird dazu die Phase zwischen dem Beginn des Dreißigjährigen Krieges 1618 bis zum Ende des Ersten Weltkrieges 1918 (und darüber hinaus) ausgeschritten. Im November 1918 war Schluss mit den Kampfhandlungen. Abseits des wichtigen historischen Gedenkens bietet dieses klug konzipierte Album Gelegenheit, mit einer erstaunlichen Bandbreite an Kompositionen Klänge von Krieg und Frieden meditativ zu durchleben. Vielleicht liegen diese beiden Zustände auch in unseren Seelen enger beieinander als wir denken mögen.

Wie ein roter Faden ziehen sich die berührenden „Lieder eines armen Mädchens“ von Friedrich Holländer durch das in die Abschnitte „Angst“, „Katastrophe“, „Vergänglichkeit“ und „Sehnsucht“ gegliederte Panorama. Darin finden sich ausgewählte Gesänge vom frühen 17. Jahrhundert bis zum  20. Jahrhundert (Hanns Eisler), aber auch Instrumentalstücke von Barockkomponisten wie Heinrich Schütz, Andreas Hammerschmidt und Samuel Scheidt. Einige Klavierstücke von Eric Satie wurden von Bo Wiget für die „Lautten Compagney“ arrangiert.

 

 

Sowohl die Zusammenstellung als auch die animierte Interpretation bieten einen exzellenten Gesamteindruck. Besonders hervorzuheben ist die hohe Sangeskunst der „Alte Musik Lady“ Dorothee Mields: Was diese deutsche Sopranistin an edlen Glockentönen, Obertonreichtum, stichgenauer Artikulation, differenziertem Ausdruck in die Waagschale wirft, ist frappant. So gelingt ihr das Kunststück, die Gesänge von Tod und Qual, Zerrissenheit und Mangel in genussreiche Hörerlebnisse zu wandeln. Frech und sprachgewaltig präsentiert diese als Spezialistin von Musik des 17. und 18. Jahrhunderts bekannte Sängerin die lyrischen Preziosen von Holländer und Eisler. Mehr davon! Komische Oper aufgepasst, da ist die nächste große Diva für Berliner Operetten im Anmarsch. Wie Bernhard Schrammek im erstklassig recherchierten Aufsatz „War and Peace“ beschreibt, waren in „Kompositionen aus kriegerischen Zeiten oftmals Depression und Ausgelassenheit eng miteinander verwoben, im 17. ebenso wie im 20. Jahrhundert. Zu diesem Befund liefert das Album präzise Zeugnisse:

Hollaender: Lieder eines armen Mädchens
Schütz: Erbarm dich mein SWV 447; Lobe den Herren SWV 39; Verleih uns Frieden SWV 372
Traditional /Eisler: Es geht eine dunkle Wolk herein
Scheidt: Galliard Cantus XX; Galliard Battaglia; Paduan Cantus V; Von Gott will ich nicht lassen
Albert: Ich seh in Angst und Pein; Letzte Rede einer vormals stolzen und gleich jetzt sterbenden Jungfrauen
Hildebrand: Ach! Herr! Du Erbarmer der Menschen; Nun, Herr, du bist ja ein Allmächtiger
Eisler: Elegie I; Und es sind die finstren Zeiten; Über den Selbstmord; Und ich werde nicht mehr sehen das Land; An den kleinen Radioapparat
Satie: Gnossienne Nr. 3 für Barockensemble; Gymnopedie Nr. 1 für Barockensemble
Isaac: Vanitas! Vanitatum Vanitas! Die Herrlichkeit der Erden
Anonymus (17. Jahrhundert): Bet, Kindlein, bet; Schnitter Tod
M. Franck: In ill tempore
Hammerschmidt: O barmherziger Vater; Die Kunst des Küssens

Fazit: Die beste Möglichkeit, an dem dieser Tage gedachten Ende des Ersten Weltkrieges mit großer Musik teilzuhaben.

Dorothee Mields & Lautten Compagney Berlin
War & Peace – 1618:1918
deutsche harmonia mundi/ Sony 2018
CD kaufen oder nur hineinhören

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