Rezension von Barbara Hoppe
Fremdschämen ist eine merkwürdige Angelegenheit. Da sagt und tut jemand etwas, und man selbst schämt sich in Grund und Boden, so peinlich ist der andere. Dabei könnte es uns völlig gleichgültig sein, was dieser jemand sagt oder tut, kennen wir ihn doch meistens nicht und haben auch sonst nichts mit ihm zu tun. Noch kurioser wird es, wenn sich dieses Phänomen auf eine literarische Figur bezieht. Man liest ein Buch und bekommt vor lauter Scham fast einen roten Kopf.
Ein Loser, der das Herz erwärmt
So geht es einem mit Kress. Kress ist Student der Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft an der Freien Universität Berlin. 12. Semester. Er ist natürlich belesener als seine Kommilitonen, intelligenter, charmanter, höflicher. Während um ihn herum nur Mittelmaß, Small Talk und Belanglosigkeit herrschen, beschäftig sich Kress mit den philosophischen Fragen des Lebens. In seiner abgeranzten Wohnung in Berlin-Neukölln und seinem einzigen Freund, Tauberich Gieshübler, sieht er eine überlegende Lebensform. Bis er sich eines Tages in Madeleine, eine Mitstudentin, verliebt. Oder eher: ihr verfällt, sie anhimmelt. Madeleine allerdings will von dem Sonderling nicht viel wissen. Wenn überhaupt, dann hat ihre viel weniger attraktive Freundin Mona ein Herz für den Außenseiter. Denn dass Kress alles andere als seinem Selbstbild entspricht, erfährt er schmerzlich: In seiner Verzweiflung und um Madeleine nah zu sein, begibt er sich in das von ihm verabscheute Mittelmaß, fährt zum Camping, geht in Diskos, besucht Partys und plaudert Bedeutungsloses. Und das in einer Art und Weise, die die immerhin wohlwollenden Studienkollegen in ihrer freundlichen Normalität an ihre Grenzen stoßen lässt. Kress versagt kläglich. Jeder Versuch, sich den anderen anzupassen, endet in betretendem Schweigen oder Flucht.
Dass dies den Leser so berührt, liegt nicht nur an der äußerst feinsinnigen, die Situation und die Gefühle Kress‘, sezierende Sprache Brells, sondern sehr wahrscheinlich auch daran, dass jeder solche unangenehmen Momente kennt. Plötzlich steht man da und hat dummes Zeug geredet, sich zu einer blöden Party mitschleppen lassen oder ist verlegen, weil der oder die Angebetete einem die Sprache verschlägt und man wie ein Trottel dasteht. Kress erlebt dies alles im Übermaß. Und strapaziert damit auch den Leser.
Bei allem Verständnis und aller Empathie für den sympathischen Loser, dreht Kress doch ein wenig zu häufig durch, überschreitet in seinem Liebeswahn zu viele Grenzen und knallt zu häufig mit dem Kopf irgendwo gegen. Ein bisschen weniger wäre mehr gewesen in diesem sonst so überzeugenden Romandebüt des jungen Aljoscha Brell.
Aljoscha Brell wurde 1980 in Wesel, Nordrhein-Westfalen, geboren und lebt in Berlin, wo er ein Team von Webentwicklern in einem IT-Unternehmen leitet. Er war Stipendiat der Autorenwerkstatt Prosa des Literarischen Colloquiums Berlin und erhielt 2009 das Alfred-Döblin-Stipendium der Berliner Akademie der Künste.
Aljoscha Brell
Kress
Ullstein Verlag, Berlin 2015
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