In ihrer ständigen Sammlung in der Villa Winter in Kronberg im Taunus präsentiert die Kronberger Malerkolonie ihre prominenten Mitglieder Anton Burger und Hugo Kauffmann. Denkwürdig war der Besuch für Stephan Reimertz: Im selben Gebäude ist er zur Schule gegangen.
Schule ohne Gedächtnis
In den neun Jahren auf der Oberschule haben wir wenig über den Ort gelernt, in dem sich diese befand. Kein Lehrer hat je die Prinzessin Mafalda und ihre Geschichte erwähnt, geschweige denn mit uns ihr Grab im Burggarten besucht. Wir lernten für eine amorphe, austauschbare Welt und befanden uns bereits in einer solchen. Das ging so weit, dass ich in meiner Schulzeit nie den Namen des Schulhauses gehört habe. Erst Jahre später erfuhr ich, dass wir uns in einer Villa Winter befunden hatten.
Von der Ruine zum Museum
Die Villa Winter, von der niemand wusste, dass sie so hieß, ist heute ein properes, nach neuester kunsthistorischer Pädagogik renoviertes Museum, das die Sammlung der Kronberger Malerkolonie enthält. Auch den Namen dieser Künstlergruppe hat nie ein Lehrer je erwähnt. Zu unserer Zeit, Anfang der Siebziger Jahre war die fast würfelförmige weiße Villa nichts als ein bruchhaftes, stark lädiertes Gebäude, das neben Klassenräumen auch das Lehrerzimmer, das Büro des Direktors und einen Karzer enthielt. In dem leeren Raum links neben dem Eingang haben sie mich noch eingesperrt, ohne Essen und Trinken und ohne die Möglichkeit aufs Klo zu gehen. Heute befindet sich dort die Kasse des Museums.
Auf dem Gemälde des Schweizers Fritz Wucherer (Öl auf Leinwand, 1910) ist das Haus von der Seite gesehen. Nicht allein der Schnee breitet eine gnadenvolle Decke darüber, sondern auch die verträumte Aura der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Der Maler war 1873 in Basel geboren und starb 1948 in Kronberg. Er ist ein gutes Beispiel für die internationale Zusammensetzung der Kronberger Malerkolonie. In unserer Schule sollte es nicht so heiter wie in der Kunst, vor allem auch weniger international zugehen. Außer an die holländische Klassenkameradin Lucia und ein Mädel ägyptischer Herkunft in der Parallelklasse namens Jasmin kann ich mich an keine ausländischen Mitschüler erinnern. Ein anderes Mädchen aus einer Parallelklasse hatte einen englischen Vater und war in der Lage, Charles Dickens im Original zu lesen, oder tat doch so. Sie entwich nach der siebenten Klasse nach München und besuchte später die Ballettschule in Stuttgart. Auch hatten wir Mitschüler, die heute berühmt und wikipediabel sind. Der Politiker Walther Leisler Kiep hatte die damalige Adolf-Hitler-Schule bereits von 1939 an besucht. Der Schauspieler Zoltan Spirandelli, ein etwas älterer Mitschüler, wurde Filmregisseur und ließ sich noch gelegentlich blicken. Aus meinem eigenen Jahrgang, Abi ’81, ging die Provinzialrömische Archäologin Gabriele Rasbach hervor.
Fairplay war ein Fremdwort
Nelson Grey Kinsley stammte aus Massachusetts und schloss sich in Kronberg der Malerkolonie an. Dem Landschafts-, Jagd- und Tiermaler verdanken wir dieses Ölgemälde der verschneiten Kronberger Altstadt, im Winter heute nahezu unverändert. Im Stadtpark genossen wir bei Schnee rasante Schlittenfahrten. Beim Fußball indes verstanden meine Mitschüler keinen Spaß. Er wurde mit tödlichem Ernst betrieben. Damals beschlich mich der Verdacht, dass man in Deutschland den Sinn des Wortes Fußball-»Spiel« nicht begreift, ebensowenig wie das Wort Sport. Auch Fairplay war nicht zufällig ein Fremdwort. Als ich auf dem Schulhof hinter dem Haus mit einem Mitschüler in Streit geriet, ihn im Kampf niederrang und ihm zur Versöhnung die Hand ausstreckte, nutzte er den Moment, um mir die Faust ins Gesicht zu schlagen. Der Schuldirektor, »Specht« genannt, ermutigte solche Momente »authentischer Arbeiterkultur«. Es wurde nicht bestraft. »So oder so, die Erde wird rot«, sang in jenen Jahren Wolf Biermann. »Hellrot oder dunkelrot.« Ich konnte mich des Eindrucks nicht erwehren, dass das Rot der Flagge und das Rot des Blutes auf dasselbe hinausliefen.
Picknick in besseren Zeiten
Schaut man sich die meist klein- bis mittelformatigen Ölgemälde der Kronberger Malerkolonie heute an, fällt die ungeheure Gelöstheit, ja Freudigkeit auf, die die Menschen darauf ausstrahlen. Der Gründer der Kolonie, Anton Burger, malte um 1874 diese galante Gesellschaft beim Picknick vor Kronberg. Die Burg sieht man im Hintergrund. Das Bild strahlt eine vormoderne, nachgerade feudale Beschwingtheit aus. Burger ließ sich von den Parklandschaften des Antoine Watteau und ihren heiteren Gesellschaften inspirieren. Kein Gegensatz könnte größer sein als der zur ideologischen und technokratischen Massengesellschaft, für die wir in den siebziger Jahren abgerichtet wurden.
Aus derselben Zeit stammt Burgers Darstellung der Kronberger »Kerb«, einer Kirmes, die sich unter demselben Namen bis heute erhalten hat. Kronberg besaß in unserer Zeit neben Starnberg die höchsten Grundstückspreise Deutschlands. Die Zusammensetzung der Schülerschaft war gleichwohl nicht durch die Oberschicht geprägt. Wer etwas auf sich hielt, gab sein Kind auf eine der beiden katholischen Privatschulen im Nachbarort Königstein oder gleich nach Großbritannien. So retteten sich der Sohn eines Orthopäden wie der eines Bankvorstandes aus meiner Klasse noch während der Schulzeit nach England hinüber. Als Sechstklässler schloss ich mich zwei älteren Schülern an, die in der JU waren, und gab mit ihnen zusammen eine Schülerzeitung heraus, die gegen die Konkurrenzzeitung »Murx« und die pseudo-linke Übermacht an der Schule gerichtet war. Zusammen mit einem Mitschüler machte ich Interviews mit Politikern und Fernsehleuten. Damals kein Problem: Man rief an, bekam einen Termin und fuhr hin. Die Verhältnisse waren kleiner. Nicht alles war so überkandidelt und aufgeblasen wie heute. Dann ging unsere Schülerzeitung ein, und unser letztes Interview erschien in der Lokalpresse. So wurde ein Gespräch mit »XY Ungelöst«-Erfinder Eduard Zimmermann meine erste richtige Veröffentlichung.
Als Elfjähriger spazierte ich mit Helmut Kohl durch die Altstadt, dem damaligen Ministerpräsidenten von Rheinland-Pfalz, der gerade zum Parteivorsitzenden gewählt worden war. Er unterhielt sich ganz normal mit einem und hatte nichts Abgehobenes. Das gleiche galt für den Bankier Hermann Josef Abs, der zu allen unseren Kirchenkonzerten in der Johanniskirche mit der schönen bemalten Holzdecke kam. Ganz anders sah es mit dem FAZ-Herausgeber Joachim Fest aus. Obwohl ich mich gern einmal mit dem Hitler-Biographen unterhalten hätte, traute ich mich nicht ihn anzusprechen. Er wohnte oben auf dem Burgberg in einem von uns »Führerbunker« genannten Gebäude und besaß eine düstere Ausstrahlung.



Vom Künstlerdorf zum Golfplatz
Kaiser Wilhelm II. brachte seine Mutter, eine Tochter Königin Victorias von England, in Kronberg in einem Landschloss im englischen Stil unter, möglichst weit von Berlin entfernt. Anlässlich ihres Todes im Jahre 1901 gab ihr der europäische Hochadel in der Johanniskirche das letzte Geleit. Auf dem Gemälde von Ferdinand Brütt erkennt man links Wilhelm II. Die Kaiserin Friedrich genannte Monarchin unterhielt von Kronberg aus jahrelang einen Briefwechsel mit ihrer Mutter im Buckingham Palace. Der Schlosspark wurde zum Golfplatz. Es gibt Orte mit Golfplatz, Kronberg ist ein Golfplatz mit Ort. Traf man auf dem Golfplatz einen Unbekannten, fragte man ihn: »Bei welcher Bank arbeiten Sie?«
Zum zweihundertsten Geburtstag von Anton Burger und 180. Geburtstag seines Schülers Hugo Kauffmann zeigt die Kronberger Malerkolonie in der Villa Winter nun in Kooperation mit der Kunstsammlung Markt Prien am Chiemsee eine gemeinsame Ausstellung. Kauffmann war von Kronberg weiter nach München, Prien und auf die Künstlerkolonie auf der Fraueninsel gezogen. Während ich dies schreibe, befinde ich mich gerade in dem Malerdorf Übersee neben Prien. Hier existierte zeitgleich eine Künstlerkolonie rund um den Maler und Lehrer Julius Exter (1863 – 1939). Es lässt sich nicht übersehen, dass sich Kronberg im Taunus besser entwickelt hat als das eine Stunde von München und eine halbe Stunde von Salzburg entfernte Übersee, obgleich sich hier ein direkter Seezugang mit Sandstrand befindet. Die Gentrifizierung von Kronberg hat sich als natur- und kulturschonender erwiesen als die Plebejisierung von Übersee. Rabiate Neubauten im pseudobayrischen Stil haben hier die Atmosphäre zerstört, wie man im Vergleich mit den unzähligen Gemälden von Exter und seinen Schülern leicht nachvollziehen kann.
Besonders stark war die Musik an unserer Schule vertreten. Aus dem Musikleistungskurs gingen zahlreiche Berufsmusiker hervor. Es hatte jedoch den Charakter einer Sekte. Ein eher unscheinbarer Cellist eine Klasse jünger, Raimund Trenkler, sollte später die Kronberg Academy gründen und das Städtchen dadurch stark aufwerten. Wer heute durch das Museum der Kronberger Malerkolonie in der Villa Winter schlendert, ahnt nichts von den Leiden der Schüler einer vergangenen Epoche. Allein Mitte der Siebziger Jahre sollte sich die Lage noch verschlimmern. Das Schulgebäude wurde aufgegeben und alle Lehrer und Schüler mussten in ein steriles Lagerhaus weit entfernt im Stadtteil Schönberg umziehen. Dort hatte einst Ricarda Huch gelebt, was natürlich kein einziger Lehrer je erwähnte. Zudem sandte das hessische Kulturministerium eine Abordnung jener pseudo-linken Junglehrer, die eine ganze Generation traumatisieren sollten. Nun zähle nicht länger die Leistung des Schülers, sondern seine ideologische Nähe zu den in Räuberzivil auftretenden Junglehrern, die im Unterricht äußerst brutal auf ihrer Sicht beharrten und einen bestimmten Jargon durchsetzen wollten. Auch in Kronberg tobte der ideologische Kampf um die Schulreform. Unser Realgymnasium wurde nach langen Kämpfen zur additiven Gesamtschule degradiert, was mit spürbarer Brutalisierung der Umgangsformen einherging. Das ist so, als wenn Sie in einem seriösen Hotel einchecken und am nächsten Morgen in einer Jugendherberge aufwachen.
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Alle Fotos: Stephan Reimertz
Kronberg painters‘ colony: a museum with a past
Villa Winter in Kronberg once served as a school, yet its history was never mentioned. No teacher spoke of Princess Mafalda or the Kronberg Artists’ Colony, whose works are now exhibited there. The formerly dilapidated school was transformed into a museum—erasing much of its past.
School life was marked by ignorance of local history and strict discipline. In the 1970s, Kronberg was barely international: one Dutch student, one Egyptian girl—that was it. Football was taken too seriously, and fair play was unheard of.
At the same time, the town had its elite side. Painter Anton Burger captured Kronberg’s rural charm, while bankers mingled on the golf course. The town changed faster than its school, which was eventually turned into a comprehensive school—amid ideological disputes.
Today, Villa Winter exhibits works from the Kronberg Artists’ Colony, including Anton Burger and Hugo Kauffmann. The art recalls a world far more cheerful than school life in those years.