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Man sieht den Wald vor lauter Bäumen

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Literatur„Der Defekt“ von Leona Stahlmann ist ein Paukenschlag meint Stephan Reimertz.

Wie durch ein Fernrohr gleitet der Blick des auktorialen Erzählers über Tausende von floralen Details. Auch Kleintiere, Haushaltsgegenstände, vielerlei Düfte und taktile Erfahrungserinnerungen schwimmen im Strom der Erzählung. Um Literatur mit größerer Kompetenz auf diesem Gebiet zu finden, bliebe einem nur, zu Schmeils Leitfaden der Tierkunde bzw. der Pflanzenkunde zu greifen. Stahlmanns Käferkenntnis überbietet allein Ernst Jünger mit seinen Subtilen Jagden. Auch die Eberjagd des erlauchten Autors mag dem Leser in den Sinn kommen; dort freilich geht es um das aristokratische Individuum, während wir es in der Welt des neuen Romans von Stahlmann mit einem voraristokratischen, ja vorindividuellen Biotop zu tun haben. Der Leser kann die Bilderflut zu einem Bild zusammenfügen und mitten im Gestrüpp die Schülerin Mina und der ein paar Jahre ältere Vetko entdecken, die der Text mit seinem Universum von Pixeln überwuchert. Durch den mythischen Schwarzwald streift kühle Luft von archaischer Frische, eine Unterholz-Vorwelt wie von Max Ernst oder aus George-Gedichten wie Urlandschaft oder Der freund der fluren. Der Magnetismus zwischen Junge und Mädchen ist hier nicht Freundschaft, nicht Liebe; hat von beidem etwas, ist vor allem aber ein Drittes: Mina erfährt, wie Schmerz enger fesseln kann als Lust. Dabei erweist sich ihr Empfinden als eher situations- denn personenbezogen; Vetko kann jederzeit entsorgt oder ersetzt werden. Moderne Psychologen würden bei Mina Depersonalisierung und Bindungsstörung diagnostizieren, Gefühlskälte und Ambivalenz einer modernen Ekklesiazuse. Das Grausigste ist die Verweigerung einer orgiastischen Entladung. Allerdings ist die hier zelebrierte Penetrations- und Katharsisverweigerung vor allem Reproduktions- und Konsumverzicht. Die Schüler grenzen sich damit vom Milieu der Eltern ab; dieses droht sie indes jederzeit wieder einzuholen.

Schmerz als inkarnierte Trauer

Was aber hat es mit den Schmerzen auf sich, die Vetko im Wald Mina zufügt? Die Trauer um die im gleichgeschalteten Leben der Massengesellschaft aufgehobene, seit Tausenden von Jahren praktizierte soziale Hierarchie wird symbolisch ausagiert. Schmerzen des Leibes werden stellvertretend für seelische ertragen, weil diese nicht mehr empfunden werden können, als Wiederherstellung einer verlorengegangenen Balance des kollektiven Unbewusstseins und somit als Erleichterung empfunden. Dabei fällt dem Draufgänger Vetko die vermeintlich dominierende Rolle zu, da der Mann in der modernen Gesellschaft noch zusätzlich seiner Männlichkeit beraubt ist; abgesehen davon stellen die eingeschüchterten vollbärtigen Muttersöhnchen von heute mit ihren Piepsstimmen für Mina ebenso wenig eine Attraktion dar wie für die meisten Mädchen. Freilich zeigt sich in dieser Konstellation allzu deutlich, wie der Devote der in Wirklichkeit Dominante ist, denn Mina ist die geheime Regisseurin dieser Rituale. Schon in dem Roman Venus im Pelz von Leopold von Sacher-Masoch aus dem Jahre 1870 erweist sich der Protagonist Severin keineswegs als der Unterlegene; er rückt seine Gegen- und Mitspielerin Wanda erst auf das Podest und dann immer weiter in die Rolle der Domina, die sie am Anfang nur widerstrebend ausfüllt. Im Unpersönlichen, Übergeschlechtlichen der Rituale von Mina und Vetko sollen zugleich die Eltern entsorgt werden, die in diesem Roman nur eine Staffagenrolle einnehmen und eher als Prinzip vorhanden sind. Die Prinzipien totaler Herrschaft wie Überwachungskapitalismus, Gender-Esoterik und Naturvernichtung sind ebenso in die Körper eingeschrieben, wie diese dagegen revoltieren.

Cover: Kein & Aber

Utopie oder Dystopie

Ein von der Phänomenologie inspirierter Existentialismus ersetzt in diesem neuen Roman Erotik mit einer Art erdgeschichtlicher Universalsexualität, die durch unbelebte und belebte Natur und in den Neuen Barbaren Mina und Vetko als letztem Glied in der Kette eine Urgewalt erreicht. Eine von latenter, wüster und harter Allgeschlechtlichkeit bebende Natur ist in Stahlmanns Text eingefangen in ein Bildprasseln, das sich oft in den Lyrismus schwingt, aber in der erzählerischen Souveränität beherrscht und zu jeder Zeit in die Erzählorganisation eingebunden bleibt. Lust, sublimiert in Gewaltausbrüchen, Zwang und Schmerz; so stellen sich Franzosen das Treiben von Deutschen tief im Forst vor; es bräuchten nicht Mina und Vetko im Schwarzwald, es könnten auch Hermann und Thusnelda im Teutoburger Wald sein, die da zwischen den Bäumen auf der Suche nach den grausigen Urbildern ihres Stammes sind. Stahlmanns Varusschlacht gegen die ermüdete Zivilisation erfüllt den antizivilisatorischen Affekt mit germanischer Frische.

Die Bestrafung der Bestrafung

Als die Protagonistin Mina in einem Lexikon die Begriffe Disziplin und Ordnung liest, bekundet sie: „Es war etwas zwischen Unwohlsein, einem Bauchschmerz, nur weiter unten, noch unterhalb des Magens, und einem Hochpeitschen des Geistes, wie ein freudiger Blitz, der durch sie hindurchhuschte.“ Ambivalenz, Todestrieb und Narzissmus sind hier in eine Engführung getrieben, als hätte die Autorin den psychoanalytischen Diskurs der 1970er Jahre mit der Muttermilch eingesogen. Oft kommen die Topoi der Großeltern ja bei den Enkeln wieder. Auch wenn sie als privatistische Passion vorgeführt wird, eignet der folie à deux von Mina und Vetko der Charakter einer gesellschaftlichen Rebellion. Diese freilich ist angesichts von Natur- und Kulturzerstörung, wie wir sie erleben, auch allzu notwendig. Mina freilich erblickt den Defekt nicht in einer dysfunktionalen, naturzerstörerischen Zivilisation, sondern in ihrem eigenen, wie sie meint, Verstoß gegen diese. Auch dieser Schuldkomplex wird sogleich inkarniert. Es bildet sich, als Zeichen ihrer gesellschaftlichen Delinquenz, wie sie glaubt, ein Steifen auf ihrer Haut. Mina fängt an, über das „Sich-Fügen“ nachzudenken. Der Defekt besteht freilich darin, dort einen Defekt zu sehen, wo die Natur sich gegen äußeren Zwang aufbäumt.

Dionysos im Schwarzwald

Um eine so gedanken- und bildreiche, vielseitige und überraschende deutsche Prosa zu finden, muss man weit zurückgehen. 1964 veröffentlichte Gisela Elsner, damals siebenundzwanzig Jahre alt, ihren Roman Die Riesenzwerge, 1970 brachte die vierundzwanzigjährige Elfriede Jelinek wir sind lockvögel baby! heraus, zwei Texte junger Frauen voller Angriffslust, die zu großen Hoffnungen Anlass gaben. Jedes Mal erhofft man eine starke, unerschrockene junge Generation, wartet man auf schöpferische Zerstörung, und immer sind die Folgen solcher durchaus revolutionären Prosa rein literarische. Der Defekt führt immerhin vor, wie Zivilisationsgerümpel durch die Erinnerung transzendiert wird und in einem weiteren Schritt entsorgt werden könnte.

Eine eigene Form von Naturmystizismus

Wir haben es hier mit einer genuinen und sprachmächtigen Autorschaft zu tun. Fast glaubt man, Ernst Jünger oder Hans Henny Jahnn zu hören: „Obwohl der Blick über den Wald hinaus weit war, wenn man nur hoch genug stand und das Baumdunkel vor dem Horizont auseinandergrätschte und in einer Senke Platz ließ für die Lichter von Frankreich, fern und doch wie mit den Händen pflückbar, konnte Mina keine offenen Flächen sehen.“ Leona Stahlmanns Roman ist den meisten anderen Neuerscheinungen auf dem Gebiet der deutschen Belletristik geistig und sprachlich weit überlegen. Dieses Debut ist ein Paukenschlag.

Leona Stahlmann
Der Defekt
Kein & Aber, Zürich 2020
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