Kolumne von Susanne Falk.
Wenn Sie Autorinnen und Autoren nach den Büchern fragen, die sie in ihrem schriftstellerischen Dasein am meisten geprägt haben, dann holen die in der Regel zum intellektuellen Rundumschlag aus und nennen natürlich Kafka, Mann, Dostojewski oder Proust. Das ist nicht unbedingt gelogen, aber sicher nur die halbe Wahrheit. Mindestens ebenso einflussreich waren wahrscheinlich Mira Lobe, Alan Alexander Milne, Michael Ende, Astrid Lindgren, J. R. R. Tolkien und, für die Jüngeren, J. K. Rowling. Doch die Bücher unserer Kindertage taugen in der Mythenbildung zum mündigen Schreiberling allenfalls zur Anekdote, deren Einfluss man herunterspielt. Dabei sind es gerade die Jahre zwischen zwei und zwölf, die uns als Persönlichkeit prägen wie kaum eine andere Lebensphase. Der Schluss liegt nahe, dass es auch die Jahre sind, die unser Verhältnis zur Literatur nachhaltig beeinflussen.
Für mich war und blieb es David Henry Wilson. Kein anderer Autor, keine andere Autorin hat mich in meiner schreibenden Entwicklung je so geprägt wie der Schöpfer der britischen Kinderbuchreihe „Jeremy James“. Man kann sich kaum einen besseren literarischen Paten wünschen, der, einer jungen Autorin an die Seite gestellt, einen behutsam an die Absurditäten des Lebens heranführt. Wilson hat mir gezeigt, welch wundersame Wege der menschliche Geist zuweilen nimmt, auf welche Abwege man manchmal geraten kann und dass es nur eine Sache gibt, die uns aus dem Dickicht des Alltags herauszuholen und gleichsam zu retten vermag: Humor.
Wenn ich heute in meinen alten Ausgaben von „Jeremy James“ blättere, dann stelle ich erstaunt fest, dass manches davon zeitlos ist, anderes wieder altert weniger gut. Das ist in Ordnung. Auch gute Literatur hat zuweilen ein Ablaufdatum. Kinderwelten verändern sich. Aber für mich bleibt der Wert dieser Bücher bestehen. Das bedeutet nicht automatisch, dass die Generation meiner Kinder dasselbe in ihnen sehen muss wie ich. Meine Kinder haben ihre ganz eigenen Geschichten, die sie lieben und die sie geprägt haben. Das ist gut und richtig so. Nur dass wir, jede Generation für sich, solche Geschichten ein Leben lang mit uns herumtragen, das sollten wir nicht vergessen und schon gar nicht unterschätzen.
Natürlich las und lese ich noch dutzende andere Autorinnen und Autoren, die mich beeinflusst haben und noch immer formen. Jedes Lebensalter hat seine eigene Literatur. Aber in dem Alter, in dem wir so wichtige Eigenschaften wie Empathiefähigkeit, Witz, Kreativität, Mut und Zivilcourage entwickeln, sind wir gut beraten, dies mit Freunden zu tun, die uns zwischen zwei Buchdeckeln davon etwas vorleben können. Kurz: Bücherfreunde sind Menschenfreunde, ein Leben lang und der Einfluss von Kinder- und Jugendliteratur weit größer, als wir es uns manchmal eingestehen wollen.
Was heißt das nun für uns Autorinnen und Autoren? Dass sich diese Bücherfreunde auf Lebenszeit auch in unserem Werk wiederfinden lassen, weil wir hier vielleicht zum ersten Mal (nicht analytisch sondern intuitiv) begriffen haben, was eine glaubhafte Figur ausmacht, was eine gute Figurenführung bedeutet, wie Dramaturgie funktioniert, was ein kluger Dialog ist und wie ein gelungener Spannungsbogen aussieht. Weil wir Leserinnen und Leser waren und, irgendwo ganz tief in uns drinnen, auch damals schon Autorinnen und Autoren von morgen. Was wir lesen, schult uns, gleich ob gute oder misslungene Literatur. In den Büchern von morgen und übermorgen, geschrieben von Autorinnen und Autoren, die heute noch Kinder sind, wird also auch ein wenig Ritter Trenk drin stecken und ihre Schülerfiguren zuweilen eine entfernte Ähnlichkeit mit einem gewissen Greg Heffley haben. Das ist von Außen nicht immer gleich zu erkennen, aber die Autorinnen und Autoren selbst werden wissen, wem sie zu danken haben. So auch ich. Danke, David Henry Wilson!
Bei Verwendung des Textes bitte Quelle angeben bzw. verlinken.