Kolumne von Susanne Falk.
Was liest man einem lieben Menschen mit Demenz vor? Die Tageszeitung? Zu aufregend. Das eigene Buch? Zu egomanisch. Märchen? Volltreffer, denn die vergisst man nie.
Ich hatte das Vergnügen, kürzlich ein Märchenbuch zu lektorieren und durfte feststellen, dass ich noch immer ziemlich sattelfest bei Grimm und Konsorten bin. Ich kannte sie tatsächlich alle und mir fiel immer auf, wenn irgendwo eine Szene fehlte. Zum Beispiel gibt es ja drei Mordanschläge auf die schöne Prinzessin mit dem Haar so schwarz wie Ebenholz, der Haut so weiß wie Schnee und den Lippen so rot wie Blut, nicht nur zwei: Band, Kamm, Apfel lautet die Reihenfolge. So steht es zumindest bei Grimm.
Also saß ich da, lektorierte und las Stellen vor, die ich für fraglich hielt. Konnte das so stimmen? Sagte der Esel bei Tischleindeckdich wirklich brickebrick? Kopfschütteln auf der anderen Seite des Tisches. „Das heißt anders.“ Und natürlich hatte er Recht, denn das Zauberwort, das den Esel Gold scheißen lässt, lautet bricklebritt.
Es gibt Texte, die begleiten einen ein Leben lang, ob laut am Bettrand vorgelesen, ob tausend und ein Mal auf Kinderkassette abgespult oder, von der anderen Seite des Bettes den eigenen Kindern zitiert – Grimm geht immer. Wobei ich mich beim wiederholten Lesen dann schon mal gefragt habe, wie man eigentlich glücklich und zufrieden bis an sein Ende leben kann, wenn man gerade einen Menschen verbrannt oder zu Tode gefoltert hat. Genau das tun die Figuren in den Märchen nämlich ziemlich oft. Vergebung ist nicht gerade deren Stärke, stattdessen wird grundsätzlich Rache geübt. Kommt eigentlich irgendwo bei Hauff, Museäus, Grimm oder Bechstein mal ein Richter vor? Oder gibt es darin nur Henker? Lernen Kinder aus Märchen, dass es okay ist, die böse Stiefmutter bestialisch zu ermorden oder nehmen die eher mit, dass am Ende alles gut wird? Denn genau genommen gehen die Figuren ja mit einem ziemlichen Trauma ausgestattet ihrem glücklichen Ende entgegen, Hochzeit hin oder her…
Ich fand es als Kind übrigens besonders beunruhigend, dass sie, wenn sie nicht gestorben sind, noch heute irgendwo leben. Womöglich in der Nachbarschaft! Schreck lass nach – welcher üble Adlige, der seine Schwiegermutter in glühende Kohlen gesteckt hat und sich zu Tode tanzen ließ, taucht heute wieder in den einschlägigen Gazetten zum europäischen Adel auf? Welche Großmutter aus der Nachbarschaft wurde vom Wolf verschluckt? Und wieso müssen immer, immer, immer die Tiere sterben? Das bring als Kind mal in deinem Kopf zusammen, dass du einerseits gefährdete Arten schützen sollst, während diese andererseits in Brunnen geworfen, aufgeschlitzt oder erschlagen werden.
Wenn man die Namen seiner Kinder zwischendurch vergisst, aber den von Rumpelstilzchen noch weiß, dann ist das vielleicht traurig, aber man begegnet sich in Gedanken immerhin im Wald wieder, wo man gemeinsam, still hinter einem Busch verborgen, dem Geheimnis des bösen Männchens auf die Spur kommt und so das Kind der schönen Müllerstochter retten kann. Lesen ist immer noch Abenteuer im Kopf, auch wenn der Kopf manchmal nicht mehr richtig funktioniert.
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