Kolumne von Susanne Falk
Sie lag auf dem Fensterbrett meiner Schwester: eine große, wunderschön polierte Rote Helmschnecke. In ihrem Bauch ruhte ein schier unendlich großer Vorrat an Geschichten, den sie nur einem Menschen anvertraute: meinem Vater.
Eigentlich hätten wir als Kinder der Ostsee den Unterschied zwischen einer Schnecke und einer Muschel durchaus erkennen können. Aber sei’s drum, für uns war es eine Muschel, groß genug, dass sie unsere Kinderohren mit Meeresrauschen anfüllte. Wer sie uns einmal mitgebracht hatte? Vergessen. Aber das Bild unseres Vaters, den wir, die wir ganz bestimmt noch nicht schlafen konnten, neinnein, auf keinen Fall, bedrängten, uns eine Muschelgeschichte zu erzählen, das vergesse ich nie. Sachte griff er nach der Riesenschnecke, hielt sie sich ans Ohr, nickte bedächtig, legte sie dann zurück auf ihren Stammplatz am Fenster und sagte schließlich: „Der Wind hat der Muschel eine Geschichte erzählt!“ Die habe sie nun wiederum ihm verraten und wenn wir ganz brav in unsere Betten liegen bleiben würden, dann würde er sie an uns weitererzählen. Keine einzige dieser selbst erfundenen Gutenachtgeschichten ist mir noch im Gedächtnis, aber das Ritual des Erzählens werde ich nie vergessen.
Alle Menschen brauchen Geschichten. Kinder brauchen sie, um die Welt zu verstehen, die sie noch nicht kennen. Erwachsene brauchen sie, um die Welt zu verstehen, gerade weil sie sie kennen.
Unser Vater hat uns mit seinen Geschichten vielleicht nicht die Geheimnisse der Welt erklärt, aber er hat uns ein großes Geschenk mit auf den Weg gegeben: die Freude am Erzählten, in jeglicher Form, ob nun als Buch, als Märchenkassette oder als Film. Als kleines Mädchen liebte ich besonders Piraten- und Räubererzählungen, genau wie mein Vater. Oder liebte ich sie gerade wegen meines Vaters?
Die Muschel gibt es noch. In ihr rauscht immer noch das Meer und lagern bislang ungehobene Geschichtenschätze. Doch der Mann, der sie erzählen konnte, ist verschwunden. Das Bild von der großen roten Helmschnecke an seinem Ohr, die erwartungsvolle Spannung in der Luft und der Genuss des Zuhörens leben weiter, ganz tief in mir verborgen.
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My Books! „Shell Stories„. Column by Susanne Falk
It lay on my sister’s windowsill: a large, beautifully polished red snail (Cypraecassis rufa). In its belly rested an almost infinitely large supply of stories that it entrusted to only one person: my father.
As children of the Baltic Sea, we could have easily recognized the difference between a snail and a shell. But never mind, for us, it was a shell, large enough to fill our childish ears with the sound of the sea. Who had given it to us? Forgotten. But the image of our father, whom we, who definitely could not sleep yet, no no, under no circumstances, besieged to tell us a shell story, I will never forget. Gently, he reached for the giant snail, held it to his ear, nodded thoughtfully, then placed it back on its usual spot on the windowsill and finally said: „The wind has told the shell a story!” Now she had revealed it to him, and if we would stay very quiet in our beds, then he would pass it on to us. Not a single one of these self-invented bedtime stories is still in my memory, but I will never forget the ritual of storytelling.
All people need stories. Children need them to understand the world they do not yet know. Adults need them to understand the world precisely because they know it. Our father may not have explained the secrets of the world to us with his stories, but he gave us a great gift: the joy of storytelling, in any form, whether as a book, a fairy tale compact cassette, or a film. As a little girl, I especially loved pirate and robber stories, just like my father. Or did I love them precisely because of my father?
The shell still exists. The sea still rustles within it, and yet-to-be-discovered treasures of stories still lie within. But the man who could tell them has disappeared. The image of the big red Helmet shell by his ear, the eager tension in the air, and the enjoyment of listening live on, deeply hidden within me.