Eine Generation nach dem Untergang der Sowjetunion unternimmt der Osteuropa-Historiker Karl Schlögel die »Archäologie einer untergegangenen Welt« in seinem Monumentalwerk Das Sowjetische Jahrhundert. Die enzyklopädische Anlage des Buches sprengt die Maße einer Monographie und zeigt: In der Sowjetunion, unserem verlorenen Gegenbild, spiegeln wir uns nach wie vor selbst. Von Stephan Reimertz.
Karl Schlögel, der aus dem Allgäu stammende Historiker Osteuropas, hat 2018 sein siebzigstes Lebensjahr vollendet, und er hat sich selbst mit dieser Monographie ein Geschenk gemacht. Das Sowjetische Jahrhundert – Archäologie einer untergegangenen Welt, im C. H. Beck Verlag erschienen und bereits in mehreren Auflagen kursierend, hat das Gewicht einen Ziegelsteins und den Umfang eines großstädtischen Telephonbuchs. Dennoch hilft der Autor unserem Respekt auf, indem er seinen Bericht als Flaneur über die postsowjetischen Flohmärkte beginnt und dort allerlei Fundstücke aus der untergegangenen Welt aufspürt, sie uns vor die Nase hält und uns mit Geschichten fasziniert. So kennen wir den Autor aus Artikeln in der Frankfurter und anderen Blättern. Schlögel ist ein Lehrer, der uns das Lernen so spannend und angenehm wie möglich macht.
Telephonbuch der Weltgeschichte
Wie in seinen früheren Büchern, etwa Moskau 1937, neigt Schlögel auch hier dazu, von der Erzählung in die Aufzählung überzugehen. So hat das dicke Buch enzyklopädisches Format. »Die Auflösung eines Imperiums ist immer so etwas wie eine glückliche Katastrophe«, schreibt der Autor und erinnert daran, wie das sowjetische Weltreich ebenso sang- und klanglos verwehte wie das römische. In Schlögels Buch können wir schon einmal lernen, was man von einem verpufften Imperium noch auflesen kann, nicht nur Matruschkas, Samoware und Pelzmützen. Der Autor übt mit uns den Blick auf einen Riesentanker ein, der durch die Zeitgeschichte navigiert. Wir dürfen den letzten Hauch eines Imperiums spüren; eine Lernerfahrung vor allem für jene, die im Lateinunterricht geschlafen haben. Die Sowjetunion dürfte kaum das letzte Imperium bleiben, welches seinen Völkern zurückgegeben wird. Schlögels geschichts-, medien- und erinnerungstheoretische Reflexionen trainieren schon einmal unsere Aufmerksamkeit. Imperien kommen und gehen; Bücher wie dieses bleiben.
Siebzig verweht
Hochschullehrer, Flaneur, Archäologe; das alles ist der Autor, wenn er uns mitnimmt auf eine Reise durch die untergegangene Welt. Gerade einmal auf die Dauer eines Menschenlebens hat es die UdSSR gebracht. Typische sowjetische Lebenswelten wie die Kommunalka, die Datscha, das Wohnheim, das »Plattenbau-Gebirge«, Zeltstädte und Barackensiedlungen kennt der Gelehrte aus eigener Anschauung. Er erklärt uns die gesellschaftlichen Bedingungen, die jene typisch sowjetischen Interieurs mit sich brachten. Mit der Frage, ob man sich für eine Wohnung bewerben konnte, ob es ein Schwarzes Brett gab, ob oder wie der Wohnraum zugeteilt wurden, hält er sich allerdings nicht auf. Für alle, die ein Moskauer Studentenwohnheim allein aus Gilbert Bécauds Chanson Nathalie kennen, dürften Schlögels Schilderungen allerdings eine erhebliche Ausweitung ihrer Vorstellungen davon bedeuten, wie man in der UdSSR lebte.
Was bleibt?
Immer wieder nimmt Schlögel ein scheinbar nebensächliches, überraschendes Artefakt, etwa die Palme, und hängt daran eine ganze Kulturgeschichte auf. Es wäre geradezu undankbar, ihm angesichts eines so umfassendes Panoramas Versäumnisse nachzuweisen, etwa, wenn er die Rolle der einzelnen Sowjetrepubliken wenig erörtert, oder wenn er gelegentlich auf die Literatur, selten aber auf den Film zu sprechen kommt. Brillant sind seine Analysen der Bedeutung der Photographie oder des Dioramas, die gerade in den ersten Jahrzehnten dieses großen gesellschaftlichen Experiments einige Bedeutung für das Selbstbild des Staatenkonglomerates besaßen.
Eine Illusion wird besichtigt
Anspruch und Umfang der neuen Studie, die Haltung des Erzählers, die Klarheit seiner Darstellung machen das Buch zu einem Standardwerk. Die Sowjetunion als Flohmarkt, die Revolution als Stadtplan, das Exil als Export russischer Intelligenz in alle Welt usw.; alles wird spannend und erschöpfend berichtet. Freilich kann der Autor auch die Welt des Gulag nicht ausklammern, selbst wenn darüber schon eine umfangreiche Literatur erschienen ist. In Deutschland wird sein Buch viele Leser finden, denn auf Zentraleuropa hat die Sowjetunion nachhaltig ausgestrahlt. Die Bewohner der DDR wurden zu Affen der UdSSR wie jene der BRD zu Clowns des Amerikanismus. Übrigens war kein Ort in der Sowjetunion so sowjetisch wie Ostberlin. Inbegriff des ferngesteuerten, von sich selbst entfremdeten Kaders war der bei Rot vor der Fußgängerampel stehende DDR-Bürger, über den jeder Moskauer der Stalin-Zeit in schallendes Gelächter ausgebrochen wäre.
Karl Schlögel
Das sowjetische Jahrhundert: Archäologie einer untergegangenen Welt
C.H. Beck, München 2018
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