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Mit Benjamin Myers in die „Offene See“ der Poesie

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LiteraturRezension von Barbara Hoppe.

„Die Bucht tat sich vor mir auf, ein weites glaziales Becken, vor mehreren Hunderttausend Jahren von knirschendem Eis und rieselndem Wasser geformt“. So lässt der erst 44-jährige britische Autor Benjamin Myers seinen Robert Appleyard die Sommererzählung beginnen, die sein Leben verändern sollte.

Sie beginnt im Frühling 1946. England erholt sich nur langsam vom Krieg. Wer ihn überlebt hat, trägt ihn noch in sich, Frauen wie Männer. Im Norden Englands, dort, wo der Kohleabbau die Ader des Lebens ist, folgen noch immer die Söhne ihren Vätern in die Stollen. Ein Schicksal, das auch Robert bevorsteht. Doch der Sechzehnjährige möchte vorher einmal das Meer sehen. Und während sich das grünste Land Nordenglands bereit macht, aufzublühen, bricht Robert aus Durham auf. Immer Richtung Süden führt ihn seine Wanderung, hin zur Nordsee, immer tiefer hinein nach Yorkshire. Die Landschaft wird lieblicher, der Frühling bricht sich Bahn. Es summt und brummt allerorts, die Sterne funkeln über ihm, wenn er nachts seinen Schlafsack ausrollt. Dann kommt der Tag, als das ersehnte Meer schon in der Nähe zu spüren ist. Eher zufällig stolpert er über ein geducktes, paradiesisch gelegenes Cottage. Es gehört Dulcie Piper, die ihn zum Tee einlädt. Aus einem Nachmittag wird ein Sommer. Die ältere, unkonventionelle Frau öffnet dem jungen Mann eine Welt jenseits der Enge eines Kohledorfs. Luft und Liebe, Kunst, Poesie und Literatur halten Einzug in die Gedankenwelt Roberts. Im Gegenzug schafft er Ordnung auf dem Anwesen. Als er in einem heruntergekommenen Atelier mit dem Aufräumen beginnt, stößt er auf eine Vergangenheit, die nicht nur voller Poesie ist, sondern auch getränkt von tragischer Liebe. Denn mit dem Krieg begann auch die große Traurigkeit von Dulcie, die ihren Lebenstraum ans Meer verlor.

Cover: DuMont Buchverlag

Und voller Poesie ist auch der Roman von Benjamin Myers. Eine endlose Ode an die Natur und die englische Landschaft entfaltet sich über die Seiten und zieht einen behutsam in das fragile Gebilde namens Leben. Sanft schaukeln die heißen Sommertage dahin, angefüllt mit Arbeit, Schwimmen, Erzählen und Essen. Randvoll mit Freundschaft und Wertschätzung, mit Respekt und der Zärtlichkeit zweier Menschen, denen Oberflächlichkeit so fremd ist wie ihre Empfindungen tief sind. Wie leicht Worte schweben können, wie zartfühlend sie die Seele berühren, um mit einem Windhauch und dem Rauschen eines Blatts alles zu sagen, zeigt sich Seite um Seite in diesem außergewöhnlich poetischen Roman. Hier sind zwei Menschen vom entgegengesetztem Ende einer Skala – der eine mit einfacher Schulbildung, die andere aus der Bohème-Welt der Künstler und Literaten – die sich mit Neugier begegnen und dabei instinktiv spüren, wie sehr sie den anderen brauchen. Nie ist ein Abschied ein wirklicher Abschied. Die „Offene See“ ruft und hält doch zurück. Das Band, das sie knüpft, soll ein Leben lang halten.

Benjamin Myers
Offene See
DuMont Buchverlag, Köln 2020
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Dieser Artikel erschien ebenfalls auf den „Entdecken“-Seiten der Westdeutschen Allgemeinen Seiten und der ihr angeschlossenen Mantelseiten, wie z.B. Neue Ruhr Zeitung.

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Ein Gedanke zu „Mit Benjamin Myers in die „Offene See“ der Poesie“

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