Bei diesem Film darf man nicht empfindlich sein. Allein in den ersten zwanzig Minuten metzelt die jüngere sizilianische Organisation der Corleonesi reihenweise die engsten Vertrauten und Familienmitglieder des alt eingesessenen Cosa Nostra Bosses Tommaso Bruscetta nieder. Darunter auch Frauen und Kinder sowie Personen, die nichts mit dem Clan zu tun haben, was in der Mafia bis dato nicht üblich war. Und mit Niedermetzeln ist Niedermetzeln gemeint (absolut nichts für zarte Seelen). Verantwortlich für die Gräueltaten ist Totò Riina. Tommaso Bruscetta hingegen sieht seine Heimat – und, wenn man so will, auch seine berufliche Heimat – nicht mehr in diesem Land mit dieser Mafia. Obwohl er durch seine Verbindungen in die USA als „Herr der zwei Welten“ gilt, wendet er sich vollständig von dem Geschäft ab. Zusammen mit seiner Frau und den Kindern geht er nach Brasilien. Aber einfach so die Mafia verlassen ist ein Unding und wird von der Organisation hart bestraft. Auch in Brasilien spürt ihn die Cosa Nostra auf. Doch sind die brasilianischen Behörden schneller, wenngleich nicht weniger zimperlich im Umgang mit dem Mafioso und seiner Frau (absolut nichts für zarte Seelen). Schließlich liefern sie Bruscetta nach Italien aus. Freilich erst nach der Beseitigung von Folterspuren.
Hier trifft Bruscetta 1984 auf den Richter Falcone. Ein kluger Mann, für den der Kampf gegen die Mafia oberste Priorität hat und den er 1992 mit dem Leben bezahlt. Warum Bruscetta mit dem Richter kooperiert und als so genannter „Pentito“, als Reuiger, gegen die Clans aussagt, bleibt im Vagen. Tommaso Bruscetta ist alles andere als ein Heiliger. Doch sein Auftritt, seine Kooperation, sein höfliches Gebaren als fürsorglicher Familienvater lässt allzu schnell vergessen, dass hier ein skrupelloser Clanchef und Mörder mit der Justiz kooperiert. Ein Verbrecher, der immer wieder betont, dass die „Cosa Nostra“ nicht mehr „seine Sache“ sei, sondern nur noch eine Organisation brutaler Verbrecher ohne Ehrenkodex. Das Ergebnis kann sich jedoch sehen lassen. Im so genannten Maxi-Prozess stehen 366 Angehörige der Cosa Nostra vor Gericht. Am Ende werden 344 Angeklagten zu insgesamt 2.665 Jahren Haft verurteilt. Doch damit nicht genug. Falcone und Bruscetta haben ein Verhältnis entwickelt, das von großer Wertschätzung geprägt zu sein scheint. So erklärt sich, dass der ehemalige Clanchef nach dem Tod des Richters aus dem Schutzprogramm der Justiz zurück nach Italien kehrt, um noch einen Schritt weiter zu gehen. Hat er bisher nur die Organisation der Mafia geschwächt, legt er nun die Verstrickungen der Politik mit der Cosa Nostra offen.
Ohne Frage ist „Il Traditore“ (Der Verräter) ein spannender und fesselnder Film über die Mafia, ihre Verbrechen und weit verzweigten Arme. Weit ungeschönter als viele die ehrenwerte Gesellschaft verherrlichenden Streifen à la „Der Pate“. Regisseur Marco Bellocchio gelingt ein kenntnisreicher Blick auf das wahre Leben und Sterben des Tommaso Bruscetta, die Mafia und den Maxi-Prozess. Vielleicht liegt es an der Natur der Sache, dass trotzdem Lücken bleiben. Warum kooperiert Tommaso Bruscetta mit der italienischen Justiz? Ist es wirklich nur die verletzte Ehre eines konservativen Mafioso? Wieso scheint das Gericht im Maxi-Prozess machtlos und weinerlich zu sein gegenüber pöbelnde Angeklagte hinter Gittern? Warum glaubt man Tommaso Bruscetta, obwohl die Verteidiger der Mafiosi seine Glaubwürdigkeit massiv untergraben? Es bleiben Logiklücken. Und, viel gravierender, trotz aller Grausamkeit eine eigenartige Faszination für die „ehrenwerte Gesellschaft“, so lange es noch „ehrenhafte“ Verbrecher wie Tommaso Bruschetta gibt. Denn am Ende ist er es, der zur massiven Schwächung der Verbrecherorganisation beiträgt. Und der als alter Mann den Kampf gegen die Mafia zwar pessimistisch sieht, aber seine Ruhe gefunden hat. Im Jahr 2000 stirbt er 72-ährig in Florida an Krebs.
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