Ein sympathischer Wirbelwind. Rezension von Ronald Klein.
Mit Ausschnitten aus seinen Filmen, zahlreichen Interview-Sequenzen und Material aus dem Privatarchiv porträtiert Bettina Böhler in Schlingensief – In das Schweigen hineinschreien Christoph Schlingensief, dessen Todestag sich zum zehnten Mal jährt.
Die erste Einladung zum Forum des Filmfestivals Berlinale blieb Regisseur Christoph Schlingensief lange im Gedächtnis. 1986 durfte er das Drama „Menü Total“ mit Helge Schneider in der Hauptrolle vorstellen. Zahlreiche Zuschauende verließen bereits in den ersten Minuten den Kinosaal, unter ihnen Wim Wenders. „Die größte Sauerei aller Zeiten“, wetterte selbst der sonst um Contenance bemühte Tagesspiegel. In Bettina Böhlers Porträtfilm erinnert sich Schlingensief äußerst süffisant an diese Anekdote. Viele Jahre lebte er mit dem Image des „enfant terribles“ und des „Provokateurs“. Böhler montiert die Erinnerung des Regisseurs mit einer Interviewsequenz, in der Schlingensief seine Sicht auf die Funktion der Provokation in der Kunst verdeutlicht. Dabei geht es nicht um den Selbstzweck. „Ich komme aus einem Apothekerhaushalt“, sagt Schlingensief. In der Medizin arbeite man mit kleinen aber gezielten Dosen unterschiedlicher Gifte, um Menschen zu heilen. Ähnlich verhalte es sich in der Kunst. Eine weitere Einstellung zeigt eine Szene aus dem Film „100 Jahre Adolf Hitler – Die letzte Stunde im Führerbunker“. Im Fernsehen nimmt Wim Wenders einen Preis entgegen. Er möchte mit seinen Filmen die Welt besser machen, sagt der Regisseur. Mit dieser dokumentarischen Sequenz kommentiert Schlingensief Wenders Reaktion bei der Berlinale. Anschließend hinterlässt Hitler, gespielt von Udo Kier, einen kotverschmierten Abdruck seines Hinterns auf einer Leinwand. – Schlingensief thematisiert in seiner drastischen Deutschland-Trilogie, zu der auch „Das deutsche Kettensägenmassaker“ (1990) und „Terror 2000“ (1992), dass rechtsextremistisches Gedankengut nicht einfach verschwunden ist. Es überlebte im Muff der BRD und brach im Windschatten der BRD wieder auf.
Böhler illustriert Schlingensiefs Schaffen chronologisch. Das Medium Film wurde Schlingensief zu eng. Ab 1993 inszenierte er in der Berliner Volksbühne, wo er beispielsweise „Kühnen 94 – Bring mir den Kopf von Adolf Hitler“ inszenierte und zu einem Pionier des deutschsprachigen postdramatischen Theaters wurde. Nur wenige Straßen weiter wirkte Heiner Müller als Intendant des Berliner Ensembles. Müller proklamierte einst: „Kunst, die mit den gegebenen Parametern der Ästhetik beschreibbar ist, wirkt parasitär.“ Schlingensief nahm den Satz durchaus ernst, sein Wirken passte in keine Schubladen (mehr). Zunehmend wirkte er als politischer Performer, der mit Aktionen wie „Tötet Helmut Kohl“ (1996, Berlin) und „Ausländer raus!“ (2000, Wien) das künstlerische Korsett sprengte und vor allem in Österreich ausländerfeindliche Ressentiments in der sogenannten bürgerlichen Mitte offenlegte. Parallel brachte Schlingensief inklusives Theater auf die Bühne, machte sich für das Prekariat stark und verdeutlichte in „Quiz 3000“, wie viel Millionen die deutsche Wirtschaft mit Maschinen und Hilfsmitteln zur Hinrichtung von Menschen generiert.
Mit seiner Inszenierung der Richard-Wagner-Oper „Parsifal“ (2005) in Bayreuth schien Schlingensief im Kultur-Olymp angekommen zu sein. Doch auch darauf wollte er sich nicht ausruhen und richtete seine Energie auf die Errichtung eines Operndorfes in Afrika. Die Krebserkrankung, die 2008 diagnostiziert wurde, machte alles zunichte. Er setzte sich damit künstlerisch auseinander und brachte „Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir“ auf die Bühne. Doch der verdammte Krebs war stärker. Christoph Schlingensief starb am 21. August 2010 im Alter von nur 49 Jahren.
Bettina Böhler, die langjährige Filmeditorin Schlingensiefs, hätte zahlreiche Weggefährten vor die Kamera bringen können. Ob Tilda Swinton, Bernhard Schütz, Helge Schneider oder Carl Hegemann – die Liste ist lang. Doch Böhler wählt eine ganz eigene Form: Sie montiert Ausschnitte aus Schlingensiefs Filmen mit Ausschnitten aus Interviews. Zu Wort kommt lediglich Schlingensief selbst. So entsteht ein äußerst dichtes und absolut sehenswertes Porträt, in dem zahlreiche hintergründige Gedanken Schlingensiefs zur Geltung kommen. So wird ein für alle Mal deutlich, dass das Label „Provokateur“ zugleich oberflächlich und dumm ist. Ebenso deutlich wird, wie so ein Ausnahmekünstler heutzutage fehlt.
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