Dacia Maraini schreibt Pasolini Briefe ins Jenseits. Stephan Reimertz begnügt sich damit, sein Grab zu besuchen. Dort, in Casarsa della Delizia, verbrachte der italienische Filmregisseur, Künstler und Dichter seine Kindheit und Jugend in Sichtweite der Alpen. Morgen jährt sich sein Todestag zum 50. Mal.
Pier Paolo Pasolini, Künstler, Dichter, Theoretiker, Filmregisseur, Autor des Empirismo eretico (»Ketzererfahrungen«),der Scritti corsari (»Freibeuterschriften«) und Lettere luterane (»Lutherischen Briefe«), heute in schwarzen Taschenbüchern in den meisten Buchhandlungen italienischer Universitätsstädte vorrätig, erklärte sich zum Marxisten. In den phantasierten Briefen der Dacia Maraini erfahren wir wiederum, dass er nie ein Buch von Marx gelesen habe. Die kommunistische Partei Italiens, PCI, hatte ihm früh wegen »Homosexualität« das Parteibuch entzogen.
Was war zuerst da: Erotische Neigung oder politische Überzeugung?
Stephan: »Bei Pasolini fällt auf, dass seine sexuelle Neigung zu proletarischen Jungs nur allzu gut zu seiner politischen Überzeugung als Marxist und Ideologe des Subproletariats passt. Welche politische Überzeugung würde zu der Neigung eines Mannes zu jungen bildungsbürgerlichen Mädchen, die Klavier spielen, Ballett tanzen, reiten usw., passen?« Begleiterin: »Das wäre vermutlich eine konservativ-elitistische oder aristokratische Weltsicht, die auf kulturelle Verfeinerung, Tradition und Disziplin setzt. Ein Mann mit dieser Neigung könnte sich zur Idee einer natürlichen Hierarchie hingezogen fühlen, in der Bildung, Ästhetik und gute Manieren als Zeichen einer überlegenen Lebensweise gelten. Diese Haltung könnte sich politisch entweder als aristokratischer Konservatismus oder als meritokratische Elitenförderung äußern; ein Glaube daran, dass die Gesellschaft von einer kultivierten, disziplinierten Führungsschicht getragen werden sollte. Interessanterweise wäre dies ein Gegenstück zu Pasolinis Position: Während er die rohe Kraft des Proletariats idealisierte, könnte eine Neigung zu jungen Bildungsbürgerinnen eine Idealisierung der verfeinerten Oberschicht darstellen. Vielleicht auch mit einer nostalgischen Sehnsucht nach einer verlorenen Ordnung, in der Anmut, Disziplin und Bildung noch klare soziale Distinktionsmerkmale waren.«
Italienische Literatur im Schatten der Alpen
Wir betreten die Bar im Zentrum von Casarsa delle Delizia, seines deliziosen Namens zum Trotz eine der ödesten Kleinstädte Italiens. Wirt: »Ihr wollt bestimmt zum Pasolini.« Etwas anderes kann man hier auch nicht machen. Es erinnert an den Moment, da ich vor Jahrzehnten zum ersten Mal den »Löwen« in Wilflingen betrat, und der Wirt, Herr Reck, uns mit den Worten begrüßte: »Ihr wollt bestimmt zum Jünger.« Etwas anderes kann man dort auch nicht machen. Immerhin muss man, um den unspektakulärsten Ort Italiens zu erreichen, den spektakulärsten passieren: Palmanova, eine Ende des 16. Jahrhunderts sternförmig angelegte Planstadt. Am Vorabend des Tages der hl. Giustina, machten wir deren Sarkophag unsere Aufwartung. Ihretwegen stieg auf der Piazza eine Kirmes ist, die wegen Niesels wenig besucht war. Wir saßen im Caffè Turinese, und kauften auf dem Markt an einem sizilianischen Stand Scamorza. Nun Casarsa, banal; allein hier erstaunt, nicht anders als in Verona oder Mantua, wie nah die Alpen stehen. Ein gut Teil der italienischen Literatur, von den Promessi sposi bis hin zu Pasolini, entrollte sich in ihrem Schatten.
Was sah Julia, als sie auf den Balkon trat?
Ist Pasolini darum so unitalienisch, protestantisch, unerbittlich, ja in manchem »deutsch«; nämlich maßlos, übertrieben, ideologisch, unsinnig? Der Poet des Subproletariats wuchs im Kleinbürgertum auf. Heute würde er die politische Situation ohne falsche Nostalgie analysieren. Systematisch geschulte marxistische Kader aus dem Norden irritiert und fasziniert er immer wieder mit seiner poetischen, assoziativen Durchdringung von intellektuellem Jargon und poetischer Sprache. Die enge Freundin Dacia Maraini hat während der Pandemie imaginäre Briefe an den Ermordeten geschrieben (was sollte man in dieser Zeit sonst auch anderes machen?), wo das Prinzip des gegenseitigen Durchwirkens von Traum, Phantasie, Zitat und Erinnerung noch freier fließt als bei Pasolini selbst. Als Quellenwerk freilich ist Caro Pier Paolo (eine deutsche Übersetzung erschien soeben im Schweizer Rotpunktverlag) daher nur bedingt geeignet.
Susanna und Pier Paolo Pasolini: Das Grab als ödipales Denkmal
Der Friedhof ist etwas abgelegen. Sein Grab ist schlicht. Ein einfacher Stein, der Name, das Geburts- und Sterbejahr. Kein Pathos, keine großen Inschriften. Der Friedhof ist ruhig, fast verlassen. Pasolini fand seine Ewige Ruh an der Seite der Frau, mit der er sein ganzes Leben verbrachte: Seiner Mutter Susanna. »Deine Ablehnung des weiblichen Körpers erwuchs nicht aus unterdrücktem Begehren, sondern aus Furcht, ein Sakrileg zu begehen«, belehrt Dacia Maraini in ihren postumen Briefen den toten Freund. Sie spricht zu ihm von oben herab, obgleich sie es ist, die noch hinieden weilt, und er ihr von oben zuschaut, nicht umgekehrt. »Der weibliche Körper war für dich so sehr zum angebeteten Mythos geworden, dass du ihn instinktiv mit einem sakralen Tabu belegt hast.« Da werden sich die schwulen Männer aber freuen, dass endlich eine Frau daherkommt, die ihnen männliche Homosexualität erklärt. Nennt man das Womansplaining? Marainis geistesgeschichtliche Bedeutung aber, und das kann ihr keiner mehr nehmen, liegt darin, den biologischen und soziobiologischen Erklärungsversuchen zur Entstehung männlicher Homosexualiät eine theologische Variante hinzugefügt zu haben.

Antonio Gramsci und die »Kulturelle Hegemonie«
Wer bin ich, dass ich mich am Grabe Pasolinis fotografieren lasse? Pasolini freilich zögerte am Grabe Gramscis weniger. 1954 besuchte er dessen Grab auf dem Cimitero Acattolico in Rom. Dieser Besuch war für ihn mehr als eine Geste. Es war ein symbolischer Dialog mit dem postmarxistischen Denker, der die Kultur als zentrales Feld der politischen Vorherrschaft entdeckte. Gramscis Theorie der Kulturellen Hegemonie, seine Vorstellung, dass die herrschende Klasse nicht nur durch Gewalt, sondern durch kulturelle Kontrolle regiert, prägte auch Pasolinis Denken. Sein Gedichtband Le ceneri di Gramsci offenbart neben postmarxistischer Melancholie die Neigung seiner Poesie, sich als umbrochene Prosa herauszustellen, oft als Thesenprosa. Man kann sich fragen, ob er überhaupt je ein Gedicht geschrieben hat. Ich würde Pasolinis Poesie eher in seinen Filmen suchen.
PPP versus PCI – eine ambivalente Beziehung
Pasolinis Wut auf die Kommunistische Partei Italiens manifestierte sich besonders in den 1960er- und 70er-Jahren, als er sie für ihre Anpassung an »bürgerliche« Strukturen angriff. In seinem berühmten Gedicht »Ich weiß« (1974) attackierte er die politische Klasse Italiens und sprach über die Mitschuld der Institutionen an der Gewalt jener Zeit. Die PCI war für ihn oft zu zahm, zu kompromissbereit, zu sehr auf parlamentarische Spielregeln fixiert. Was würde Pasolini heute zu einer neuen kommunistischen Partei sagen? Wahrscheinlich würde er jede Nostalgie verachten. Er würde nicht die PCI der Vergangenheit wiederbeleben wollen, sondern nach neuen Formen des Widerstands suchen. Vielleicht würde er auf die neuen Arbeiterkämpfe blicken, die Streiks der Logistikarbeiter in Norditalien, die Kämpfe der prekären Akademiker, die Migrantenbewegungen. Vielleicht würde er verzweifeln an der heutigen Linken, an ihrer Unfähigkeit, eine radikale Alternative zu formulieren.

Gramsci heute
Für heutige Leser scheint Pasolinis theoretisch-polemisches Werk entscheidende Berührungspunkte mit Denkern aufzuweisen, die als »reaktionär« abgetan werden, vor allem mit Nicolás Gómez Dávila. Der Kolumbianer war zu Pasolinis Zeiten in Europa noch gar nicht bekannt. Beide setzen die Würde der vorkapitalistischen Welt den Verwüstungen des Neoliberalismus entgegen. Beide liebten die Alte Welt, Pasolini eher die bäuerliche Seite, Dávila die aristokratische. Jeder von ihnen könnte mit Talleyrand sagen: « Ceux qui n’ont pas connu l’ancien régime ne pourront jamais savoir ce qu’était la douceur de vivre. » Es hätte indes jeweils einen anderen Zungenschlag. Warum offenbaren der aristokratisch-katholische Denker aus Kolumbien und der Gefühlsmarxist und Künstler aus Italien eine so große Schnittmenge? Neben ihrem entwickelten ästhetischen Empfinden gibt es eine denkbar einfache Antwort: Weil beide katholisch sind. Pasolini wäre der ideale Kritiker der Ära Berlusconi gewesen. Er hätte sie wohl als Erfüllung seiner Warnungen und Alpträume angesehen. Die starke Präsenz Pasolinis im öffentlichen Diskurs Italiens bis in die Popkultur hinein, zeigt, wie dringend Menschen von heute Orientierung in einer Situation suchen, die mit dem alten Recht-Links-Schema nicht mehr zu verstehen ist. In der Tat gibt Pasolini mit seine theoretischen Schriften, die stets unkonventionell sind, einige Orientierungshilfe. Man sollte darüber jedoch den Dichter, Linguisten und überragenden Filmerzähler und –poeten nicht vergessen. Mit seiner Verfilmung des Matthäusevangeliums von 1964 gibt er uns beispielsweise das Bild eines schlackenreinen, gestrafften Jesus, wie er neben den Visionen Botticellis, Rembrandts oder Masaccios stehen kann. Die tragisch-burleske Mamma Roma von 1962 entwickelt eine komplexe Mutter-Sohn-Beziehung vor dem Hintergrund einer quirligen Stadt als Weltmetapher. Und selbst in selten gespielten und kritisch beurteilten Filmen wie Medea von 1969 gelang Pasolini etwas Grenzüberschreitendes: Hier versuchte er, aus der unsterblich in ihn verliebten Operndiva Maria Callas eine unsterbliche Schauspielerin zu machen.
Bei Verwendung des Textes bitte Quelle angeben bzw. verlinken.





