„Das größte Unglück ist die Verhinderung des Glücks“ heißt es an einer Stelle in Alexander Häussers wunderbarem Roman „Noch alle Zeit“. Und es ist diese tiefe Melancholie, die sich sanft durch das Buch zieht und unwiderstehlich ist. Rezension von Barbara Hoppe.
Edvard – mit „v“, denn sein Vater war viel in Skandinavien – ist über sechzig und hat gerade seine Mutter beerdigt. Eine Mutter, für die er seit seinem fünfzehnten Lebensjahr gesorgt hat. Der Vater, ein Trödelhändler, hatte die Familie damals verlassen. Eines Tages kam er einfach nicht mehr von einer seiner Reisen zurück. Angeblich war er tot, was Edvard nie glauben mochte, meinte er ihn doch noch einmal in einem Spielzeuggeschäft in Hamburg gesehen zu haben. Die Mutter hingegen ging seelisch an dem Bruch zugrunde und klammerte sich an den Sohn. Der opferte alles für sie, auch seine große Liebe Elsie. Doch ein Sparbuch auf seinen Namen, auf das über Jahrzehnte aus Norwegen Geld eingezahlt wurde, wecken seine Lebensgeister. War der Vater doch nicht gestorben? Und warum hatte seine Mutter nie von dem Geld erzählt, was sie beide so gut gebraucht hätten? Kurz entschlossen packt Edvard seinen Koffer und macht sich auf den Weg nach Oslo. Dabei trifft er auf Alva, 30 Jahre alt, die als Journalistin in Berlin arbeitet und mit ihrer Tochter Lina bisweilen überfordert ist. Von dem Vater des Kindes lebt sie längst getrennt. Schlecht bezahlt, mit sich selbst und der Welt nicht im Reinen, begibt sie sich auf Recherche nach magischen Orten in Norwegen.
Auf der Überfahrt begegnen sich die beiden und ein nächtliches Betrinken schweißt sie schließlich zusammen. Die Schicksalsgemeinschaft ist in dem Moment besiegelt, als Alva kotzend erst über der Reling und dann erschöpft in den Armen von Edvard hängt. Spätestens seit „Lost in Translation“ wissen wir, dass Geschichten mit alten Männern und jungen Frauen weder schmierig noch kitschig sein müssen. Alexander Häusser schafft zudem eine zusätzliche Dimension: Die Weiten Norwegens, die Fjorde, Berge und die Einsamkeit führen die beiden tief in ihre Seelen. Was war, was wird sein und wo ist ihr Platz im Leben? Sie wissen, dass beide es ohne den anderen nicht schaffen werden. Trotz Reibungen und Spannungen klammern sie sich wie Ertrinkende aneinander, um ihr Leben zu retten. Mit tiefer Melancholie umflort, erzählt Alexander Häusser die Geschichten des schweigsamen Norddeutschen und der Berlinerin. Ihre Erinnerungen sind Geschichten in der Geschichte. Und gleichzeitig sind sie der Aufbruch zum Glück. In Gedanken ist Edvard bei Elsie, Alva hingegen kämpft um die Liebe ihrer Tochter. Es ist eine Suche, in der sich die Angst vor sich selbst in der rauen Landschaft Norwegens auflöst und die Zukunft so schön leuchtet wie das Nordlicht.
In einem Begleittext schreibt Alexander Häusser, dass er glücklich sei, dass es diesen Roman jetzt gebe. Das können wir auch. Selten liest man so viel Zartheit und Melancholie, so viel Hoffnung und Aufbruchsstimmung auf knapp 300 Seiten.
Alexander Häusser
Noch alle Zeit
Pendragon Verlag, Bielefeld 2019
Buch kaufen oder nur hineinlesen
Bei Verwendung des Textes bitte Quelle angeben bzw. verlinken.