»Vorsicht bissiger Hund!« steht auf dem Gartenzaun unseres Autors Stephan Reimertz. Damit ist nicht etwa sein Jagdhund gemeint, sondern er selbst! Dann Hasso ist recht zahm, Stephan aber nicht. Feuilletonscouts kennen seine beißfreudigen Musik- und Theaterberichte. Aber auch der Film ist vor ihm nicht sicher, wie die folgenden vergifteten, aber eben auch sehr unterhaltsamen Maximen zeigen.
I
Theaterschauspieler, die kein Film machen, sind unterbeschäftigt.
Theaterschauspieler, die Film machen, sind geistig unterbeschäftigt.
II
Wenn ein Stoff nicht genug für einen 90-Minuten-Film hergibt, kann man immer noch eine Serie daraus machen.
III
Josef Goebbels sagte: »In einem deutschen Film will ich keine Hakenkreuze sehen. Unsere Leute müssen unterhalten werden und der Film international verkäuflich sein.« – Heutige Produzenten sagen: »In einem deutschen Film will ich Hakenkreuze sehen. Unsere Leute müssen unterhalten werden und der Film international verkäuflich sein.«
IV
Historische Serien können auch als relevante Minderheitenfilme konzipiert werden. So wurde ja die Geschichte des KaDeWe als lesbische Schmonzette abgedreht. Warum nicht auch die Geschichte der deutschen Luftwaffe als Homosexuellendrama? Tollkühne Männer in ihren schwulen Kisten…
V
Gute Filme in den Öffentlich-Rechtlichen gelingen nicht mithilfe der, sondern gegen die Verwaltung.
VI
Im Rundfunkrat sind Vertreter aller sozial relevanten Gruppen vertreten. Der Rat sorgt dafür, dass Vertreter aller sozial relevanten Gruppen im Drehbuch vertreten sind.
VII
Kriminalbeamte gehen irgendwann in Rente. Ihre Darsteller im Tatort – niemals!
VIII
Ein Schauspieler vom Münchner Residenztheater, der noch nicht Tatort-Kommissar war, muss sich als gescheiterte Existenz betrachten.
IX
Was die sprachliche Komplexität der Tatort-Drehbücher angeht, ist ein gewisses Süd-Nord-Gefälle zu beachten. Dürfen Drehbücher in Wien noch aus Haupt- und mehreren Nebensätzen aufgebaut sein, sollte die Kompliziertheit Richtung Nordsee immer mehr abnehmen, bis nach Hannover, wo man sich nur noch notdürftig in simplen Indikativ-Hauptsätzen verständigt. Am Hannöverschen selbst kann es nicht liegen, hat dieses doch grammatisch weitausschwingende Autoren wie Pastor Sackmann von Limmer, Theodor Lessing und Karl Jakob Hirsch hervorgebracht. Auch die Person der Kommissarin kann nicht der Grund sein, denn diese wird von einer Schauspielerin dargestellt, die 1.) aus München, 2.) aus dem berühmten Gelehrtenclan der Furtwänglers kommt und die 3.) mit dem Verleger so anspruchsvoller Intelligenzblätter wie Focus und Superillu verheiratet ist.
X
Wird ein teurer Schauspieler gleich am Anfang des Films erschossen, erfolgen Rückblenden.
XI
Die zuschaltbaren Untertitel wurden nicht für schwerhörige Zuschauer eingeführt, sondern weil die jüngere Schauspielergeneration nicht mehr sprechen kann und man sonst nichts verstehen würde.
XII
Es ist ein besonderes Verdienst von ARD und ZDF, dass man bei den Filmen inzwischen Erklärungen für Hörgeschädigte zuschalten kann. Der Hirngeschädigten wird gleich beim Schreiben des Drehbuchs gedacht. Die öffentlich-rechtlichen Sender geben offen zu, dass das Durchschnittsalter ihrer Zuschauer 65 ist; dies dürfte auch ihr Durchschnitts-IQ sein.
XIII
Für die Synchronstudios ergeben sich neue Aufgaben. Einerseits sollten zwar weniger ausländische Spielfilme synchronisiert und besser mit Untertiteln versehen werden, damit die deutschen Fernsehzuschauer mehr Fremdsprachen lernen, wie dies ja in kleinen Ländern wie Holland, Dänemark usw. der Fall ist. Andererseits geht den Synchronsprechern mitnichten die Arbeit aus, da ja die ganzen Nuschel-, Plärr- und Quäkfilme aus deutscher Produktion neu synchronisiert werden müssen.
XIV
Figuren im deutschen Film sprechen nicht die Sprache von Kriminellen, Polizisten, Ärzten, Arbeitern u. a., sondern den Jargon von auf der Filmhochschule ausgebildeten Drehbuchautoren.
XV
Wenn Hans Albers 1932 in dem Film F.P. 1 antwortet nicht singt: »Flieger, grüß mir die Sonne!« meint er mit »Flieger« den Piloten. Heutige Filmfiguren meinen mit »Flieger« das Flugzeug. Infantilismus und Pseudoweltläufigkeit, wie sie sich hier verraten, sind indes nicht nur Eigenschaften der Drehbuchautoren, sondern leider auch der Zuschauer.
XVI
Die Protagonisten des neuen deutschen Autorenfilms wechselten vom Flakgeschütz direkt an die Kamera und bekämpften die Regisseure, die ihre Väter ins Exil gejagt hatten, als Opas Kino.
XVII
Nachdem durch Ise Koch, Jutta Rüdiger und Magda Goebbels das Ansehen der deutschen Frau etwas gelitten hatte, stellte es die Filmregisseurin Margarethe von Trotta mit Hilfe von Rosa Luxemburg, Hannah Arendt und Gudrun Ensslin wieder her. In ihren Biopics bewies Trotta aller Welt: Die deutsche Frau ist ein guter Mensch! Auch Gudrun Ensslin war auf ihre Art eine Mutter Theresa, selbst wenn sie statt Verbänden Bomben legte. So ganz nebenbei kreierte Frau von Trotta zugleich als Unterabteilung des Rührstücks ein neues Genre im deutschen Kino: den Betroffenheitsfilm.
XVIII
Die Eleganz der deutschen Gesellschaft kommt nicht von ungefähr: Die deutsche Dame der siebziger und achtziger Jahre orientierte sich in ihrem Auftritt an Hanna Schygulla, der deutsche Herr an Rainer Werner Fassbinder.
XIX
Während der englischsprachige Film über Darstellerinnen adeliger Herkunft wie Audrey Hepburn, Joan Fontaine oder Tilda Swinton ebenso verfügt wie über solche, die dem Adel nachträglich beitraten wie Grace Kelly, wird dem deutschen Film ein Mangel an Adel vorgeworfen. Dies ist völlig ungerechtfertigt: Außer historischen Größen wie Erich von Stroheim und Margarethe von Trotta verfügt unsere Filmindustrie über Aristokraten wie Rosa von Praunheim und Hella von Sinnen.
XX
Der Inklusionsfilm macht sich um die gesellschaftliche Integration von Minderheiten verdient. Hierbei tut sich wiederum der Tatort hervor: Jörg Hartmann beweist als Hauptkommissar Faber aus Dortmund, wie selbst verwahrloste, Margarita Broich als Frankfurter Ermittlerin Anna Janneke, wie selbst bekloppte Staatsbeamte komplexe Kriminalfälle lösen können.
XXI
Wer Peter Simonischek zum Vater und Charlotte Schwab zur Mutter hat, der verfügt auch über Schauspieltalent. Sollte man meinen.
XXII
Vielversprechendes Buchprojekt des Hanser Verlags: Meret Becker schreibt einen Stil- und Manieren-Berater.
XXIII
Verlage sind dazu da, die Prominenz eines Schriftstellers aufzubauen. Dazu aber bedürfte es richtiger Verlage und echter Verleger. Da nehmen sie lieber jemanden, der bereits prominent ist. Darum veröffentlichen immer mehr Schauspieler Romane. Die Tendenz geht dahin, dass künftig nur noch Schauspieler Romane veröffentlichen.
XXIV
Um beliebten Darstellern Imageverlust zu ersparen, sollten die Produktionsfirmen ihnen Interview-Verbot erteilen.
XXV
Engländer, Franzosen, Italiener usw. werden am besten von deutschen Schauspielern dargestellt. Wie schon Sechzigerjahre-Klassiker wie Die Gentleman bitten zur Kasse und diverse Edgar-Wallace-Verfilmungen beweisen, verfügen deutsche Darsteller wie Horst Tappert, Klaus Kinsky, Hans-Joachim Fuchsberger u.v.a. über jenes unschlagbare Harris-Tweet-Understatement, vor dem Engländer erblassen. Diese wären eh erblasst, hätte man ihnen jene deutschen Filme vorgeführt. Dasselbe gilt für die ach so quirlige Leichtigkeit deutscher Staatstheater- und TV-Mimen in Venedig-Krimis von Donna Leon. Selbst Ms. Leon ist ja keine Italienerin. Aber bitte nicht im italienischen Fernsehen ausstrahlen!
XXVI
Die Schilderung europäischer Nachbarn hat im deutschen Film dem jeweiligen Stand der bilateralen Verachtung zu folgen, damit der Spielfilm bruchlos die vorausgegangenen TV-Nachrichten ergänzen und vertiefen kann. Dürfen Franzosen noch als charmante, wenn auch unzuverlässige Ferienbekanntschaften durchgehen, ganz an der Seite ihrer skurrilen aber stilvollen britischen Nachbarn, wird es bei unseren osteuropäischen EU-Kameraden schon schwieriger. Ungarn haben wie Mafiosi auszusehen, denn Ungarn wird ja von einem Diktator mit eigenem Willen regiert. Mafiosi aus Tschechien und der Slowakei hingegen haben wie seriöse Geschäftsleute zu wirken, schließlich sind deren Diktatoren uns gefügig. Daher auch die Beliebtheit der Prag-Krimis; die tschechische Hauptstadt hat sich von der altmodischen K&K-Stadt der Sowjetzeit zum leuchtreklamestrahlenden Hinterhof der von uns allen angebeteten Starbucks-Kultur gemausert. Vor allem aber sollte der deutsche Spielfilm die Verbundenheit mit unseren amerikanischen Freunden bis in die kleinste Geste reflektieren, etwa in der Begrüßung: »Hi!«, dem an jeder passenden und unpassenden Stelle angebrachten Ausruf: »Fuck!«, der Phrasierung von Aussagesätzen als Fragen (»Ich bin Schüler der Realschule?«) sowie der direkten Übertragung angloamerikanischer Redensarten ins Deutsche (»…am Ende des Tages…«, »Das willst du nicht wissen!« usw.). Solche Filme sind vollkommener Ausdruck unseres amerikanisierten und nicht mehr wiederzuerkennenden Landes, das ja ohnedies schon wie eine amerikanische Filmkulisse aussieht, mit Jugendlichen, die sowieso wie synchronisierte amerikanische Filme sprechen. Entscheidend ist, dass der Zuschauer inmitten der Berieselung nicht mehr zu sich selbst oder gar auf die Idee kommt, einen deutschen Klassiker zu lesen.
XXVII
In Moskau und St. Petersburg treffe ich vorwiegend sensible, empathische, kultivierte Menschen; in deutschen Spielfilmen – und denen anderer NATO-Staaten, vor allem der USA – kommen Russen nahezu ausschließlich als Mafiosi und Russinnen als Nutten vor. Offenbar lerne ich die falschen Leute kennen.
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