Rezension von Barbara Hoppe.
Es gibt Bücher, die katapultieren einen bereits mit den ersten Sätzen in die Kindheit und Jugendzeit zurück, als man die Sonntage auf der Couch liegend verbrachte, abgetaucht in die Geschichte eines dicken Wälzers. So ein Buch ist „Niemand weiß, dass du hier bist“ von Nicoletta Giampietro.
Jugendbuch oder doch für Erwachsene?
Es ist der Debütroman einer italienischen Autorin, die seit 1995 in Mainz lebt. Ihre vier Kinder sind inzwischen erwachsen. Aber man darf annehmen, dass sie sich über viele Jahre über schlechte Jugendliteratur geärgert hat. Denn ihr Debüt lässt vermuten, dass sie sich einen Herzenswunsch erfüllt – nämlich endlich mal ein Buch für Jugendliche zu schreiben, das nicht nur spannend ist, sondern auch lehrreich. Und vor allem: Das einlädt, völlig abzutauchen.
Nicoletta Giampietro erzählt die Geschichte von Lorenzo, der als Ich-Erzähler schildert, wie er 1942 aus seinem geliebten Libyen, das damals noch unter italienischer Herrschaft stand, von den Eltern zu Verwandten nach Siena geschickt wird, um vor dem Krieg sicher zu sein. Lorenzo ist zu diesem Zeitpunkt 12 Jahre alt und begeisterter Mussolini-Anhänger und Faschist. In Siena freundet er sich mit dem Nachbarsjungen Franco an, dessen Familie glühende Duce-Verehrer sind. Lorenzo hingegen kämpft mit den antifaschistischen Äußerungen seiner Familie, die dem Regime offenbar sehr viel kritischer gegenübersteht. Lorenzos Leben ändert sich dramatisch, als die Deutschen die Stadt besetzen und beginnen, Juden zu deportieren. Plötzlich sind viele Menschen, mit denen Lorenzo befreundet ist, in Gefahr. Er trifft eine folgenschwere Entscheidung, die nicht nur sein Leben, sondern auch das seiner Familie in Gefahr bringt.
„Niemand weiß, dass du hier bist“ hat alle Zutaten, um zu fesseln: Faschisten, Partisanen, Judenverfolgung, eine Kinderfreundschaft, die viel wagt, ein bisschen Liebe und Abenteuer, einen gütigen Nonno sowie eine warmherzige Haushälterin. Und obendrauf lernt man noch eine Menge über Italien in den Jahren 1942 bis 1944, bis der Krieg für die Stadt Siena schließlich vorbei ist. Nicoletta Giampietro schreibt sich spielerisch in die Vorstellungskraft ihrer Leserinnen und Leser, und das ist leider auch der Schwachpunkt dieses Romans. Zum einen ist zu viel im Aufbau des Plots vorhersehbar. Zum anderen versetzt sich die Autorin so gekonnt in die Perspektive ihrer jugendlichen Helden, dass Erwachsene sich mit der Lektüre leicht unterfordert fühlen dürften. Geschickt beschreibt sie Geschehnisse, die ihre erwachsenen Figuren wie nebenbei historisch und politisch einordnen, damit das Kind Lorenzo versteht. So lernt auch der Leser. Doch wer einigermaßen in der Schule aufgepasst oder seine Bildung wenigstens durch die zahlreichen Fernsehdokumentationen zu den Jahren 1933 bis 1945 erhalten hat, benötigt diese Erläuterungen nicht mehr. Nicoletta Giampietro balanciert auf dem schmalen Grat, für Erwachsene zu einfach und für Kinder und Jugendliche mitunter zu komplex zu schreiben. Dabei spart sie nicht mit grausamen Schilderungen von Kriegsverbrechen, die trotz ihrer Brutalität merkwürdig jugendgerecht wirken.
„Niemand weiß, dass du hier bist“ ist dennoch für Erwachsene eine schön erzählte, spannungsvolle und nicht zu anspruchsvolle Geschichte, für Jugendliche ein lehrreicher Roman über eine dunkle Zeit.
Nicoletta Giampietro
Niemand weiß, dass du hier bist
Piper Verlag, München 2019
Buch kaufen oder nur hineinlesen
Coverabbildung © Piper Verlag
Bei Verwendung des Textes bitte Quelle angeben bzw. verlinken.
Pingback: Der Literatur-Podcast am Sonntag: “Niemand weiß, dass du hier bist” von Nicoletta Giampietro – Feuilletonscout. Das Kulturmagazin für Entdecker