Wenn der größte Komponist derjenige ist, der die meisten Lieder geschrieben hat, von denen man denkt, sie seien Volkslieder, dann heißt er nicht Johann Sebastian Bach, Wolfgang Amadé Mozart, ja nicht einmal Franz Schubert. Er heißt Robert Stolz. Der sympathische 1880 in Graz geborene Komponist erzählte selbst, wie verblüfft Herbert von Karajan war zu erfahren, Vor meinem Vaterhaus steht eine Linde sei kein Volkslied sondern stamme aus Stolzens Feder. Es ist in der Tat ein besonderes Ingenium, welches einem Tondichter Lieder eingibt, die klingen, als seien sie immer schon dagewesen. Im Jargon der modernen Kunst ausgedrückt: Es sind objéts trouvés. Der Komponist scheint sie weniger erfunden als gefunden zu haben. Wenn man Stephen Hawking dahingehend folgt, alle denkbaren Zahlenkombinationen seien im Weltall bereits vorhanden, spricht tatsächlich ebensoviel für die These, Stolz habe zum Klingen gebracht, was immer schon in der Welt war, wie für die Vorstellung einer Bibliothek von Babylon à la Jorge Luis Borges.
Einzi heiratet ihren Lieblingskomponisten
Ein genialer Komponist braucht nicht unbedingt sympathisch zu sein, man denke nur an Beethoven. Robert Stolz indes war sympathisch, ja er war liebenswert und vorbildlich. Als weltberühmter Komponist ging er ins Exil, weil er mit den Nazis nichts zu tun haben und seinen jüdischen Kollegen zur Seite stehen wollte, obgleich er selbst bis dahin keinerlei Probleme bekommen hatte. In seiner Limousine schmuggelte er Juden aus Deutschland heraus. Paradoxerweise steckten ihn die Franzosen als »feindlichen Ausländer« in ein Lager, aus dem ihn eine unbekannte junge Frau, »die meine Enkelin hätte sein können«, befreite. Doch Einzi, so hieß die Frau, begnügte sich mit ihrer Heldentat nicht. Sie heiratete ihren Lieblingskomponisten.
Wie singt man ein Lied von Robert Stolz?
Der Komponist und Dirigent wurde fast 95 Jahre alt. Seine Autobiographie heißt Servus du nach einem seiner bekanntesten Lieder. Nicht minder berühmt sind Lieder wie Im Prater blühn wieder die Bäume, Du sollst der Kaiser meiner Seele sein, Die ganze Welt ist himmelblau,Mein Liebeslied muss ein Walzer sein oder Ob blond, ob braun, ich liebe alle Fraun. Sprichwörtlich wurden sie auch dank der Texte von Dichtern wie Bruno Hardt-Warden; wie der Komponist so braucht auch der Textdichter für diese Art von Liedern ein besonderes Händchen. Und hier sind wir bei der Kernfrage angelangt: Um welche Art von Kunst handelt es sich bei Robert Stolz und seinem Weltreich der Musik und der Bühne überhaupt? Die so eingängigen Lieder sind nämlich überraschend schwer richtig zu singen. Das zeigt sich daran, wie die meisten Sänger Robert-Stolz-Lieder entweder zu opernhaft schmettern, zu operettenhaft trällern, zu chansonmäßig hauchen oder einfach hinplappern wie eine Diseuse. Hier (https://www.youtube.com/watch?v=Ra-KPtLS8Uo) wäre ein kleines Potpourri, in dem Sänger wie Gretl Schörg, Ursula Kerp, Franz Fehringer oder Willi Hofmann Stolz-Lieder, wie wir finden, in modellhafter Weise interpretieren. Man sollte als Sänger einen eigenen Robert-Stolz-Stil erarbeiten, der zwischen Volkslied, Chanson, Song, Schlager, Operette und Oper liegt, von jedem etwas hat, aber eben keinem einfach entspricht. Das setzt auch einen besonderen Typ Sänger voraus. Frei nach Brecht könnte man auch hier sagen: Nichts ist schwerer zu machen als das Leichte.
Triumph der Katzenmusik
Die Welt von Robert Stolz ist die große Welt; sie ist zeitlos, eine Welt voll Geist, Witz, Originalität, Humanität, Gefühl, Sympathie und vor allem: Liebe. Sein Idiom ist international. Auch darum wurde der in Graz geborene Grandseigneur als der Botschafter Wiens in aller Welt empfunden, als König der Operette und würdiger Nachfolger von Jacques Offenbach, Johann Strauß und Franz Lehár. Doch der Weltruhm von Robert Stolz steht im seltsamen Kontrast zu der desolaten Situation der musikalischen Stolz-Pflege. So wie seine Lieder oft schlampig gesungen werden, so vernachlässigt man zugleich auch die Originalpartituren zugunsten von Arrangements und Bearbeitungen, die jeder Beschreibung spotten. Man stelle sich vor, die Fledermaus von Johann Strauß werde im Theater von James Last und seinem Orchester ausgeführt, dann weiß man, wie manche Stolz-Version klingt. In dem Film Wenn die kleinen Veilchen blühen von 1968, den wir Ihnen heute nahebringen möchten, lässt sich gar der Komponist selbst herbei, ein Arrangement im Stil der Radio- und Tanzmusik jener Zeit zu dirigieren. Offenbar glaubte der alte Herr, mit der Zeit gehen zu müssen. Die Katzenmusik wird hier eingespielt von den Orchestern Max Reger und Kurt Graunke (Arrangement: Gert Wilden). Wenn wir den Film trotzdem empfehlen, müssen wir gute Gründe haben.
Graz, Graz, nur du allein!
Wer den Stereo-Farbfilm, eine Coproduktion des ZDF mit dem ORF, heute sieht, genießt mehrere Zeitebenen, die sich gegenseitig durchdringen. Die Burleske um den Trupp junger Studenten, die mit einer Schar von Pensionsmädeln flirten, spielt vor dem Ersten Weltkrieg. Daran hat sich auch der Film in der Regie Hermann Lanske in Habitus und Kostümen gehalten. Die gleichnamige Operette selbst wurde 1932 uraufgeführt. Ursprünglich spielt die Handlung gar nicht in Österreich, sondern zur Abwechslung in Bacharach am Rhein. Der Film verlegt sie in Stolzens Geburtsstadt Graz, was uns eine kleine Sightseeing-Tour inklusive Walzer im Herrenhof einbringt. Und der steirische Landeshauptmann Josef Krainer d. Ä. (ÖVP) tritt in der Rahmenhandlung ebenso auf wie der Komponist selbst mit seiner Frau Einzi.
Der Unterschied zwischen Kuss und Kuss
Was das Arrangement der Musik kaputtgemacht hat, reißt die TV-Bearbeitung von Hugo Wiener wieder heraus, einem der illustren Könner des Wienerischen Kabaretts. Kleinkunst-Mythos Cissy Kraner, die Hugo Wieners legendären Chanson Der Nowak lässt mich nicht verkommen sang, ist in der Rolle der Molly-Polly, Chanteuse im Kasino, natürlich auch dabei. Wieners witzige Dialoge stehen in besten Nertroy-Tradition: »Schade, dass dieser Amor aus Stein ist. Ein Pfeil, und Sie wären in mich verliebt.« »Da müsst er schon mit einer Kanone kommen.« Auch mal ganz frech: »Sie sind die wahnsinnig knusprige Beute-Tante, was machen’S da?«
Oder: »Der eine wünscht sich ein glückliches Heim und der andere ein heimliches Glück.« Schließlich die zentrale Frage: »Gibt es zwischen Kuss und Kuss einen Unterschied?«
Klassiker, zu singen und zu tanzen
Heute würde man den Stoff noch etwas mehr outrieren und ironisieren. Doch der Mut zur Albernheit, die Höflichkeit, die Gaudi, die Mädeln im Pensionatskleid mit Kreissäge auf dem Kopf, Johannes Heesters als Professor, welcher der Mädchenklasse den Unterschied zwischen der Pompadour und der Dubarry erklärt, all das offenbart eine Fernsehproduktion, in der durchaus noch ein Hauch von Neorokoko spürbar, in der noch nicht alles plattgemacht ist. Nach einer Stunde ist es dann soweit: Das Titularlied erklingt unter dem Uhrturm von Graz aus dem 13. Jahrhundert. Wenn die kleinen Veilchen blühen steht trotz des erfreulichen Inhalts in Moll und erzielt nach einer wiegend-erzählerischen Einleitung eine schwebende, durchsichtige, unbegreiflich melancholische Wirkung, wie sie gerade den Zauber der Musik von Robert Stolz ausmacht. Beate Granzow (im Abspann als Beate von Granzow firmierend) und Thomas Fritsch, damals frische junge Leute, intonieren das zauberische Lied mit großer Sensibilität. Auch die anderen Lieder dieses Singspiels, Ich hab ein Mädel gern, Das war der schöne Theobald, Du, du, du, schließ deine Augen zu, Es lebe die Liebe, Ich lieb nur eine oder Ungeküsst sollst du nicht schlafen gehen, haben jeweils auch allein ihren Weg gemacht. Die Spatzen pfeifen sie von allen Dächern und verkünden die zeitlose Kunst von Robert Stolz. Natürlich baut der Film auch Anspielungen für Fans ein; so exerzieren die Mädeln im Turnsaal zu Solzens Salomé, einem vielgesungenen Lied, das schon 1919 entstand und bereits Ernst Lubitsch zu einem Film inspirierte.
Das „Sie“ ist erotischer als das „Du“
Wenn wir an dieser Stelle Ernst Lubitsch erwähnen, so stellt sich die Frage, wieviel von dem kosmopolitischen, charmanten und leichten Lubitsch-Touch in diesem Film-Singspiel noch vorhanden ist. Ein wenig Charme ist tatsächlich noch greifbar, auch wenn in jenem Jahr 1968 die Kultur ins Kleinbürgerliche und Dogmatische umkippte. Der alteuropäische kosmopolitische Charme der Bourgeoisie ging in Deutschland zunächst unter den Stiefeln der SA und SS in Scherben und später unter den schwarzen und leider mittlerweile auch braunen Halbschuhen einer technokratischen Managerkaste. Österreich versucht Deutschland traditionell sogar noch zu übertrumpfen. Ein lustiger und bezaubernden Film wie Wenn die kleinen Veilchen blühen ist ein kleinen Anfang, den Brutalismus unserer Zeit zu überwinden. Die schon etwas angejahrte Darstellerinnen in der Rolle von Schulmäderln sind sicher ein Problem; hier werden Zwanzig- bis Dreißigjährige für Fünfzehn- bis Siebzehnjährige ausgegeben in der Hoffnung, die Zuschauer seien kurzsichtig. Aber entzückend ist der Umgang zwischen Schülerinnen und Studenten im Kaiserreich, das Siezen, das viel erotischer ist, die Anrede: „Mein Fräulein!“ Die Schauspieler können nicht viel mehr tun als chargieren, was sie freilich mit großer Professionalität und Leichtigkeit abliefern. Rudolf Carl als Pedell ist ein klassischer altösterreichischer Schwejk-Charakter. Leider konnte sich Peter Kraus in den achtzig Jahren seiner Bühnenlaufbahn niemals zu deutlichen S- und Sch-Lauten durchringen. Wir empfehlen unseren Lesern diesen Film trotz all seiner Mängel und hoffen, zur weiteren Jagd nach guten Robert-Stolz-Aufnahmen und Lektüre seiner Autobiographie Servus du angeregt zu haben.
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