Serien erfreuen sich immer größerer Beliebtheit und das nicht erst, seit die Kinos geschlossen sind. Ganz vorne dabei: „Babylon Berlin“.
Stephan Reimertz hat sich die ersten drei Staffeln der Erfolgsserie angeschaut. Sein Fazit ist ein bissiger Kommentar zur deutschen Film- und Fernsehlandschaft.
»Sie können ned in die Oper gehen? Jammern’S ned, sondern schauen’S halt Babylon Berlin, des ist auch a Oper.«
So sprach Vroni die Friseuse, und da ich ihrem Urteil vertraue, schaute ich einmal hinein in die Monsterproduktion der ARD. Wenn ich die Mediathek richtig verstehe, ist sie als eine Fortsetzungsroman gedacht, wo man jederzeit Pause einlegen und weiterschauen kann, wenn man Zeit hat. Doch leider scheinen die Öffentlich-Rechtlichen die Idee des Internets ebensowenig verstanden zu haben wie die der EU. Ist das Internet global? Sind wir eine europäische Gemeinschaft? Nicht bei ARD und ZDF! Wenn ich Babylon Berlin weiterschauen wollte, wurde mir oft gesagt: »Diese Sendung können Sie aus rechtlichen Gründen nur in Deutschland, Österreich und der Schweiz sehen.« Ein beruflicher Trip nach Brüssel? Die Jagdhütte einen Meter zu weit auf böhmischem Boden? Ein Abendessen in Mailand? Schon sind Sie im »Ausland« und bekommen Fernsehverbot.
Der ideale Arbeitsplatz für Sitzenbleiber
Wie ist das möglich? Der Begriff Ausland passt ebenso wenig in unsere Zeit wie etwa Wörter wie Junggeselle oder Schlüpfer. Die politischen und technologischen Chancen, die unsere Zeit bietet, werden von den Winkeladvokaten des Staatsfernsehens durchkreuzt. Erst nach langer Recherche habe ich erfahren, wie es dazu kommt: Natürlich habe die Schikane keinerlei »rechtlichen Gründe«. Aber Top-Juristen gehen in die großen Kanzleien, und das Mittelmaß kommt beim Staat unter. Doch wer als Jurist bei den öffentlich-rechtlichen Medien arbeitet…
Altbackene Veranstaltungen
Nicht anders steht es mit der Zeit, in welcher Sie die Sendung sehen können. Diese nämlich ist begrenzt. Sie schauen gerade einen spannenden Krimi, und an der entscheidenden Stelle ist Sense! Ihr Film steht nicht mehr in die Mediathek zur Verfügung. Wie gut, wenn ein paar findige Jugendliche ihn bereits auf YouTube hochgeladen haben. Bei ARD und ZDF sitzen Sie in der letzten Reihe. Das monströse Apparatschik-Konglomerat ist an Ausdehnung nur mit dem MfS zu vergleichen, hingegen nicht annährend so effektiv. Beim Ministerium für Staatssicherheit arbeitete eine Elite, das Staatsfernsehen ist eher ein Sammelplatz für Sitzengebliebene. Hier können sie weiterhin Sessel drücken und Kreative ausbremsen. Angesichts von YouTube und anderen Anbietern sind die öffentlich-rechtlichen Mediatheken in der gegenwärtigen Form sinnlos. Zudem sind sie umständlich zu bedienen.
Kein deutscher Film ohne Hakenkreuz
Unter Goebbels durfte im deutschen Film kein Hakenkreuz zu sehen sein, heute muss unbedingt eines hinein. Wenn man eine deutsche TV-Serie konzipiert, die international anschlussfähig, sprich: im Ausland zu verkaufen sein soll, müssen unbedingt Nazis hinein. Der Nazi gehört in den deutschen Film wie der Arzt in den Arztroman, wobei das Rote Kreuz durch das Hakenkreuz ersetzt wird. Babylon Berlin, bis jetzt in drei Staffeln erschienen, spielt ausnahmsweise einmal nicht in einem KZ, Gestapo-Gefängnis oder dem von Deutschen besetzten Paris, aber vielleicht kommt das ja noch in der vierten Staffel. Bisher wurde die von Nazis und (in weit geringerem Maße) Kommunisten bedrohte Weimarer Republik in ihren letzten Zügen zuckend mit anheimelndem Grusel zelebriert, wobei Nazidarsteller bereits in Statistenrollen vorkommen. Die wahrhaft Bösen, und darin folgt der Film ganz der Leninschen Lehre, sind auch gar nicht die Nazis, die hier nur als nützliche Idioten herhalten, sondern die Akteure des bürgerlich-konservativen Lagers und der Konservativen Revolution, im Film am Beispiel der Schwarzen Reichswehr.
Die Schüler der Sozilehrer drehen einen Film
Der geheime und illegale Ausbau der Reichswehr bildet den vage historischen Bezug in diesem Zwanziger-Jahre-Klamauk, einer assoziativen Aufgipfelung aller Klischees, die einem rund um den Blauen Engel so einfallen, der aber tatsächlich mit den Zwanziger Jahren soviel zu tun hat wie die Schneider-Bücher über den Agenten Lernet mit der Arbeit des französischen Geheimdienstes. Proletarier, Prostitution, Preußen, Homosexuelle, Nachtleben, Agenten, Bourgeoisie, Halbwelt, Provinzler, Zimmerwirtinnen, Caféhäuser, Hinterzimmer; nichts wird ausgelassen in diesem Roaring-Twenties-Schocker aus Berlin. Dennoch werden Ihnen die wenige Seiten einer Kurzgeschichte von Josef Breitbach mehr über jene Epoche vermitteln als die vielen langen Stunden dieser Fernseh-Schmonzette, die mehr und mehr aus dem Leim geht.
Ein Stern geht auf
Das ganze überdimensionierte Kasperltheater ruht auf den zarten Schultern von Liv Lisa Fries. Die Schauspielerin verkörpert die Garçonne Charlotte Ritter, eine echte Berlinern mit Herz und Schnauze, zunächst Stenotypistin und Gelegenheitsprostituierte, schließlich Kriminalassistentin. Und dann heißt es immer, es gäbe in Deutschland zuwenig soziale Mobilität. Berlinern ist derzeit in, und die in Berlin geborene Fries schwäbelt als Sophie Scholl in dem gleichnamigen Biopic weit besser als die Stuttgarterin Nina Hoss als Ritters Polizeikollegin Elsie Garten in Schatten der Mörder berlinert, dem krassesten antirussischen Propagandafilm seit Ende des Hitler-Stalin-Pakts. (Die Liste der deutschen Schauspielerinnen, die noch nicht als Sophie Scholl firmierten, ist kurz.) Man soll mit astronomischen Metaphern sparsam umgehen, aber Liv Lisa Fries kann man als neuen Stern am deutschen Filmhimmel betrachten.
Die Personen und ihre Darsteller
Volker Bruch bleibt nur noch übrig, als Vollblutdetektiv Gereon Rath neben Lotte eine halbwegs gute Figur abzugeben, was ihm aber mühelos gelingt. Hier zeigt sich auch wieder, der korrekte Dreiteiler stand Männern aller Berufssparten doch besser als die heutige Windjacken- und Jeanshosenkluft. Nobel und überlegen mimt Matthias Brandt den an Bernhard Weiß angelehnten Regierungsrat August Benda. Brandt erweist sich wiederum als exzellenter Charakterdarsteller. Karl Markowics gibt den leicht verschlampten Samuel Katelbach, eine Mischung aus Joseph Roth und Peter Altenberg. Hat schon einmal jemand herausgefunden, warum jüdische Intellektuelle im Film immer linksliberal sein müssen? Der historische Joseph Roth jedenfalls besann sich eines besseren, wurde Monarchist und trat dem Widerstandkreis um Erzherzog Otto in Paris bei.
Lotte und die Detektive
Fritzi Haberlandt als ebenso charmante wie altjüngferliche Zimmerwirtin, Thomas Thieme als Polizeipräsident, Hannah Herzsprung als Großstadtschönheit und Udo Samel als souveräner Polizeichef, ein echter Nachfolger des Otto Wernicke alias Kommissar Lohmann aus Fritz Langs M, sie alle verleihen dem Film einen Glanz, den er von sich aus nicht hätte. Die starke Seite des deutschen Films sind gegenwärtig seine Schauspieler, die schwache seine Drehbücher. Übrigens spielt die brillante Besetzung dem »politischen Anliegen« des Films dann doch einen Streich. Mit Benno Fürmann erscheint in der Rolle des konservativen Intriganten, der Ernst Jünger zitiert und auch einmal einen Nazi erschießt, dann eine allzu gutaussehende Erscheinung mit hypnotischen Hans-Albers-Augen. Sieht man Benno Fürmann, beginnt man das Ende des Stummfilms zu bedauern.
Auf das Gesamtkunstwerk folgt das Gesamtschulkunstgewerbe
In dem Maße wie ein Stoff lehrstückhaft zusammengebastelt wird, um damit etwas zu beweisen, geht die historische Wahrheit in die Brüche. Insofern kann man tatsächlich sagen, Babylon Berlin stehe in der Brecht-Tradition. Alles wird so hingebogen, wie man es gern sehen möchte. Die Weimarer Republik freilich ist nicht an zuviel Reichswehr zugrunde gegangen, sondern an zuwenig; wie denn ein Militärputsch 1933 das einzige gewesen wäre, das Hitler hätte stoppen können. Zwar spukt der Geist von Marlene Dietrich durch die Kulissen, der Spuk reicht jedoch nicht aus, um dieser Räuberpistole Durchschlagskraft zu verliehen. Dazu kommen noch die Mickeymaus-Hefte, die drei Herren, die zugleich als Drehbuchautoren und Regisseure in ihrer Jugend offenbar statt guter Bücher gelesen haben und die den cartoonhaften Charakter des Filmmonstrums erklären. Die passende Altersempfehlung für den Endlosstreifen wäre nicht Ab 12, sondern Bis 12, auch wenn 60 das Durchschnittsalter des ARD-Zuschauers darstellt; leider wohl auch seinen Durchschnitts-IQ. Man will beim Staatsfernsehen doch soviel für Minderheiten tun; wann tut man einmal etwas für die intelligente Minderheit?
Zur ARD Mediathek und zu den Staffeln 1-3 von Babylon Berlin
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Kluge, fundierte Rezensionen geben oft Entscheidungshilfe, mit welchem Film, Buch oder welcher Aufführung ich meine Lebenszeit veredeln möchte – und womit eben nicht! Im Fall der Kritik an der Serie „Babylon Berlin“ bin ich sehr froh, diese erst jetzt gelesen habe und nicht schon ein paar Wochen früher. Denn die Rezension von Herrn Reimertz hätte mich möglicherweise vom Einschalten einer Folge abgehalten und mich dann um viele bereichernden Abende – meist gleich mit mehreren Folgen hintereinander – gebracht. Ja, „Babylon Berlin“ hat mich positiv überrascht. Es ist unterhaltsam, episch, sinnlich, atmosphärisch, behaglich düster, geht oft heftig zur Sache – ein Mix, der zuverlässig für einen gelungenen freien Abend (im Leben eines Kulturjournalisten-Kollegen) taugt. Die Kriminalhandlung der Serie ist ein ordnender dramaturgischer roter Faden, nicht weniger, aber auch nicht viel mehr. Viel aufregender ist die Atmosphäre, die schlaglichtartigen Perspektiven auf Milieus, Befindlichkeiten, Stimmungen im Berlin der ausgehenden Weimarer Republik. Ich erwartet bei so einem Produkt gar keine wissenschaftlich saubere Erkenntnisvermittlung. Eine gut gemachte Filmproduktion ist nicht Primärquelle, sondern ein ästhetisierendes Kunstwerk. Damit ragt „Babylon Berlin“ haushoch über so vielem, was von Fernsehanstalten heutzutage fabriziert wird. Regisseure, Schauspieler, Kameraleute, Komponisten sind mit viel Fantasie und Leidenschaft bei der Sache. Tom Tykwers bewährtes Regie-Handwerk sorgt für stringente dramaturgische Handschrift und mitreißenden Drive. Der detailverliebte Aufwand, mit der die Lebenswelt dieser Zeit bis ins letzte Detail dargestellt wird, zieht wie eine imaginäre Zeitmaschine ins Berlin von 1929 hinein. Das mag so manchem Insider vielleicht mal klischeehaft erscheinen, vermittelt aber vor allem einem jungen Publikum wieder Lust auf (Zeit-)Geschichte, wo der pädagogische Zeigefinger doch allzu oft kontraproduktiv wirkte.
Vielen Kritikpunkten an der Politik der ARD-Anstalten ist zuzustimmen. In einem Punkt kann nicht deutlich genug widersprochen werden: youtube ersetzte KEINE öffentlich-rechtlichen Mediatheken. Allein, weil youtube selbst keine Inhalte „einkauft“. Angesichts ausufernder Werbeeinblendungen auf youtube-Clips steht zudem die Werbefreiheit eines gepflegten Kultur-TV-Abends zur Disposition – noch mehr die Freiheit der Kunst angesichts immer undurchschaubarer werdender Zensur-Algorithmen auf youtube.