Von Carsten Schmidt.
Der knapp 30-jährige Yordan Radichkov wuchs in Sofia auf und studierte dort. Es ist das Leben der Menschen, die vom Einkaufen kommen, sich in Kneipen streiten oder einfach so unerwartet den Verstand oder sogar ihr Leben verlieren, was ihn fasziniert.
In der titelgebenden Kerngeschichte des Erzählbandes wird essayistisch mit der Idee gespielt, wie es wäre, wenn sich das Leben von uns löst und einen verlässt wie ein vernachlässigtes Haustier und man ihm hinterherläuft wie ein trauriger Ex.
„Zu allem Überfluss sehe ich einen Menschen vor mir, der ebenfalls sein Leben von der Kette gelassen hat, und dieses Leben – dümmer, als die Polizei erlaubt – weiß nicht, wo es hin soll, es rennt wie schwachsinnig, glotzt dumm und kapiert nichts.“
Allein an diesem Ansatz erkennt man die kraftvolle, mutige Art, wie der junge Autor an Themen herangeht. Es ist eine erzählerisch ungewöhnlich weise Art, sich an Sprache zu wagen, griffig, spürbar, im warmen Sinne hölzern-berührbar.
Vielleicht ist dem Autor diese Unverfrorenheit, diese Angstlosigkeit, sich Themen oder Verrücktheiten zu schnappen und sie einfach weiter zu drehen wie eine Schraube und zu schauen, wo man am anderen Ende des Brettes rauskommt, von seinem gleichnamigen Großvater (Jordan Raditschkow) gegeben, der einer der bedeutendsten Dramatiker und Schriftsteller Bulgariens war. Seinem Großvater wurden Vergleiche wie Gogol oder Kafka an die Seite gestellt, und zumindest etwas von der Parabelhaftigkeit und der philosophischen Übungsweise, Dinge gedanklich durchzuspielen, sind auch im Enkelstil zu finden.
Yordan probiert in „Leben, wo bist du?“ mehrere Erzähl-Ansätze über abstrakt zu Wir- zu Er- und Ich-Perspektive, und nicht alles fließt, so dass dieses 126 Seiten-Bändchen als erster Ausblick für den aktiven und schreibwütigen Autoren zählen kann. Manchmal scheinen die Zahnräder nicht ineinanderzugreifen, dann wieder surrt es wie ein Rennrad bergab auf warmem Asphalt.
So zum Beispiel in den flüssigen, szenisch an Beckett erinnernden Dialogen der Geschichte, wo ein vielleicht gerade toter oder nur halbtoter Zuggast von Mitfahrenden entsorgt wird:
„Wir wollen ihn schließlich nicht ewigen Qualen aussetzen und auch nicht, dass er auf der Erde umgeht – das fehlte noch, dass er zu einem Geist wird!“ – „Ach was, wo sollten wir ihn denn begraben – ich schlage vor, wir werfen ihn aus dem Fenster und basta. Alles ist vergänglich … Also, wenn wir ihn aus dem fahrenden Zug werfen, machen wir nichts falsch.“
Wer mit Ende 20 so schreibt, der hat Humor, Literatur und Theater im Blut.
Wir dürfen uns nach dieser von Elvira Bormann-Nassonowa erstmals ins Deutsche übersetzten Geschichte freuen auf mehr, das von diesem Autor kommt und dem kleinen, jungen Berliner eta Verlag, in Federführung von Petya Lund, danken, die dieses Schmankerl herausbrachte und sich für Literatur vom Balkan und Südosteuropa sehr verdient macht.
Yordan D. Radichkov
„Leben, wo bist du?“
aus dem Bulgarischen von Elvira Bormann-Nassonowa, Erstübersetzung
eta Verlag, Berlin 2019
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Coverabbildung © eta Verlag
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