Von Ingobert Waltenberger.
Der Tango holt das Beste aus uns allen raus oder lässt es an die Oberfläche blubbern wie schäumende Lavablasen im mediterranen Sonnenlicht. Der sizilianische Schuft und Millionenbetrüger Aldo Favarotta und die kleine depressive Witwe Signore Cocuzza mit ihrer kleinen Cafeteria finden sich in Randazzo in einem Turnsaal einer Mittelschule wieder zu einer Milonga. Freilich war die graue Cocuzza von der versoffenen Freundin Poldi vorher mit der Observation des unehrenwerten Favarotti beauftragt worden.
Und als Cocuzza nicht herauskommt aus der Schule, in die Favarotta entwichen ist, geht Poldi nachschauen. Durch einen Türspalt beobachtet sie, wie die traurige Signora einen guten Kopf größer als Favarotta, aber mit Eins-A-Haltung und einem Blick so verloren und unergründlich wie ein Bandoneonspieler vom Río de la Plata über die Tanzfläche schwebt. Obwohl sie schon lange raus aus dem Tango zu sein behauptet, verziert sie die von Favarotta geführte Colgada mit zarten Bewegungen, malt mit den Beinen Bilder auf den Boden und kehrt dann wieder in Favarottas enge Umarmung zurück. So zumindest erzählt es durchaus glutvoll Mario Giordano in seinem neuesten Krimi „Tante Poldi und der Gesang der Sirenen“. Der Autor lässt am Schluss seinen gefallenen Antihelden Schulkindern den Tango lehren, bevor er vom Kommissar Montana verhaftet wird. “Lasst nur eure Füße einfach machen, die wissen schon, was sie tun müssen. Das Wichtigste, das Allerwichtigste ist “Au-gen-kon-takt.”
Der Tango als idealer Rückzugsort für Gauner und Ganoven, aber auch für unglückliche Witwen, junge Abenteurer oder einfach Menschen wie Du und Ich, die zumindest für einige Stunden dem Hagel an Politpropaganda, medialem Katastrophismus und Untergangsstimmung entgehen wollen.
Die Musik und der Tanz bilden in unserem Sizilienkrimi den Kitt und die Lösung des Falls, aber auch den Freiraum für Gestrandete, um in einem Lebensrausch sondergleichen über alles Unglück zu triumphieren. Und sei es nur für eine oder zwei Stunden. Sogar ein Padre muss für Tante Poldis Investigations-Passion den Tango lernen und in der Sakristei mit der Cocuzza üben. “Madonna, nicht so steif, Padre. Mehr fuego! Mehr aus der Hüfte heraus. Bedenken Sie, dass Sie führen, Sie müssen Glut entfachen!” Uff: Was tut man nicht alles für seine gläubigen Schäfchen und die Neugier, Kriminalfälle zu lösen.
Der Tango öffnet die innersten und geheimsten Kammern unserer Seele. Wer Lust darauf hat, einem solchen Trip zu folgen, dem seien zwei CDs empfohlen, die wohl das Beste bilden, was an neueren Tango-Interpretationen gewagt ward.
Rudens Turku & Friends haben sich Astor Piazzolla und Carl Kraayenhof vorgenommen. Auf der beim Label Prospero erschienen CD mit Bearbeitungen von Alexander Krampe und Bob Zimmermann spielt der überaus fesche Teufelsgeiger Rudens Turku mit Carl Kraayenhof (Bandoneon), Benjamin Nyffenegger (Cello), Oliver Schnyder (Klavier) und Dominik Wagner (Kontrabass) elf Nummern, die eines gemeinsam haben: Sie gehen unter die Haut. Kein Wunder. Sich einfach in diese Rhythmen fallen zu lassen, in sie hinein zu sinken, und die unendlich variierten Klangfarben der wunderbaren Arrangement zu hören, entführt den Hörer in andere Welten, vielleicht sogar in die Quintessenz des Ich.
Für Rudens Turku schlagen die Töne der “konzertanten Musik des weltoffenen, in den USA aufgewachsenen Argentiniers mit italienischen Vorfahren“ auch noch besondere biographische Parallelen an. “Piazzollas Familie war emigriert, genau wie meine eigene Familie nach Deutschland kam. Außer einem Geigenkasten in der Hand hatten wir nichts.”
Piazzolla redet uns von Freiheit, “seinen Stil mit Sinnlichkeit und Rhythmus neu zu erfinden.” An Emotionen mangelt es nicht. Die Musik ist “voll Trauer, Verzweiflung, aber auch von einer Lebensfreude, die von Dunkelheit umhüllt ist.” Rudens Turkus einzigartige musikalische Ausdruckswelten sind existenzieller Aufschrei und genießerisches Wegtauchen zugleich. Da hämmert das Schicksal an die Tür und fordert ebenso zu Gelassenheit auf. Aber es gilt auch: Nur wer die Sehnsucht kennt, weiß was ich leide. Das Württembergische Kammerorchester assistiert bei den Nummern “Milonga del ángel”, “Balada para un loco”, “Fuga y misterio“, “Oblivion”, “Libertango“, “Desconcierto” und “Adios Nonino.”
Die zweite CD “Age of Passion” geht es verinnerlichter an. Juliane Laake und das Ensemble Art d’Echo flechten in einer übereinander gelagerten Betrachtung von Vergangenheit und Gegenwart einen unentwirrbaren Zopf aus Klängen zum Thema Melancholie und Leidenschaft.
Das Elisabethanische Zeitalter mit den von Tränen, Seufzern, Liebesschmerz und Todesnähe sprechenden Liedern des John Dowland, dann einige Tangos von Astor Piazzolla, Carlos Gardel und Osvaldo Donato, Zeitgenössisches von Reiko Füting (“fall from your spring”) und dem Bandoneonvirtuosen Luis Di Matteo “Por dentro de mi”) und fertig ist das Wunderwerk.
Hier geht es in erster Linie um die zart gezeichnete kammermusikalische Klangmagie, in der Hauptsache derjenigen der Gambe und des Bandoneons. Die sieben Musikerinnen und Musiker (Juliane Laake, Irene Klein, Júlia Vetö, Heike Johanna Lindner, Christian Heim, Magnus Andersson und Lothar Hensel) gehen den kühnen harmonischen Eingebungen Piazzollas, die durch die Einbeziehung von Jazzelementen, dissonanten und chromatischen Wendungen sowie kontrapunktische Abschnitte gekennzeichnet sind, auf den Grund. Die Wirkung ist eine völlig andere als bei Rudens Turku. Hier passt das vom Musikwissenschaftler Bernhard Schrammen im Booklet zitierte Aperçu des Tangotexters Enrique Santos Discopolo: “Tango ist der traurige Gedanke, den man tanzen kann.”
Wobei wir wieder beim Krimi wären, der nicht depressiv, sondern mit einer überraschend schönen Wendung endet. Tante Poldi, die dem Sensenmann noch einmal von der Schaufel gesprungen ist, hinterlässt ihrem Neffen einen Brief: Ihr Vito und sie haben “einstweilen die Schnauze voll von Mord und Lügen, und das Leben ist so kurz. Deshalb machen wir eine kleine Reise.” Weil, es gibt halt noch ein paar Orte auf der Welt, an denen sie noch nicht war. Aufbruch und Einkehr, die zwei Seiten derselben Lebensmedaille. Gibt es bessere Träume in unserer Welt?
Mario Giordano
Tante Poldi und der Gesang der Sirenen
(Sizilienkrimi, Band 5)
Bastei Lübbe, Köln 2020
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Piazzolla 100 – Rudens Turku & Friends
Prospero 2021
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Lothar Hensel, Juliane Laake, Ensemble Art d’Echo
Age of Passion (Lachrimæ – Tango for Viols & Bandoneon)
Raumklang 2021
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