Tobias Kratzers Bayreuther Tannhäuser 2024 unter dem Dirigat von Nathalie Stutzmann.
Von Barbara Röder.
Dieser Tannhäuser ist Kult und längst zur Legende avanciert! Dem Werkstattgedanken Richard Wagners treu bleibend gab es für eingefleischte Fans des eindringlichen Regiestreichs von Tobias Kratzer, Erstaufführung 2019, Novitäten: eine von allen liebevoll zelebrierte Hommage an den Ausnahme-Helden-Tenor Stephen Gould!
Es war ein denkwürdiger Abend. Knistern, Anspannung und freudige Erwartung lagen in der Luft des Bayreuther Festspielhauses. Der berühmte gefilmte Flug über die Wartburg und die grünen Wälder eröffnete zu Klängen der Ouvertüre die Künstlerschicksal-Oper Tannhäuser. Ein neuer Dreh der Eröffnungssequenz, das war eindeutig, flimmerte zu behutsam weihevollen Tönen aus dem mystischen Graben. Oskar (Manni Laudenbach) zückt, einer Zeremonie gleichend, ein Foto des ersten Clown-Tannhäusers, des Bayreuth-Tenors Stephen Gould. Dieser verlieh 2019 der Rolle seine würdevolle Grandezza! Trauer überfällt Manni und eine Träne kullert über seine Wange, denn Stephen Gould, der treuliche Held, verstarb vergangenen Herbst (2023). Tosender Szenen-Applaus bricht los! Das hat es, meiner Meinung nach, noch nie gegeben während eines Aufnahme-Premieren-Ereignisses. Ein prickelnder, bedeutsam schöner, bewegender Augenblick!
Weiterhin blieb die Festspielteich-Party in der ersten Pause erhalten, in welcher Irene Roberts (Venus), Le Gateau Chocolat, im superbunten Dress mit ihren Mitmachkünsten das Publikum faszinierten. Auch ein neues Hexenhausplakat klebt am Frau-Holle-Häuschen und spricht für die Geistesgegenwart Kratzers und die Zeitlosigkeit dieser Inszenierung. Tobias Kratzer kündigt das Märchensingspiel: »Dr. Claudias Kasperltheater. Hänsel & Gretel« an. Ein Schelm der Böses dabei denkt! Ein klares Statement gegen Roths Idee, Humperdincks Märchenoper auf dem Hügel zu spielen.
Die französische Dirigentin Nathalie Stutzmann hat ein sehr gutes Händchen für die weiten, musikalisch ausschweifenden Bögen des Wagnerschen Tannhäuser-Kosmos‘. Transzendenz, innigst entrückte Momente weisen die Farbigkeit und die bewusste atmende Kargheit der Partitur auf, deren romantischer Zungenschlag Stutzmann nie außer Acht lässt.
Mit Klaus Florian Vogt wartet Bayreuth mit einer Jahrhundertstimme für diese Partie auf. Vogt versteht es, die unüberwindbaren Tannhäuser-Charaktereigenschaften, die eines Sünders, Sängers und Büßers, der nie zur Ruhe kommt in dieser Welt, glaubhaft zu interpretieren. Die Bitterkeit, der Sarkasmus und die Ironie, welche seiner ariosen «Romerzählung» im dritten Akt innewohnen, berühren. In Vogts empfindsamen Ausgestalten schwingt Schubertsche Tristesse ebenso mit wie ein “Der-Welt-abhanden-gekommen-sein“. Vogt ist die von Klarheit und Kontemplation beseelte Tannhäuser-Traumbesetzung! Mit Elisabeth Teige begegnet der Zuhörer einer gut phrasierenden, gesanglich süßlich strahlenden Elisabeth. Sie verleiht der leidenden Figur jene engelhafte Entrückung im Wesen, die diese Figur beherbergt. Die rebellierende, freilebende, wilde Venus gibt Irene Roberts mit starkem Durchsetzungsvermögen und irrwitziger Spielfreude. Ihr glutschimmernder Mezzo begeistert. Der markant lyrisch und weich intonierende Wolfram von Markus Eiche besticht mit einem begnadet schönen, sanften Timbre im «Lied an den Abendstern». Günther Groissböck gestaltet den Landgraf Hermann mit seinem wandlungsfähigen, würdevollen Bass. Er ist eine wunderbare Idealbesetzung für diese Partie. Mit äußerst freudvollem Spieleifer singen tonschön brillant Siyabonga Maqungo (Walther von der Vogelweide), der kernig wackere Ólafur Sigurdarson (Biterolf) sowie Martin Koch (Heinrich der Schreiber) und Jens-Erik Aasbø (Reinmar von Zweter).
Der fantastisch aussingende Bayreuther Festspielchor unter der Leitung von Eberhard Friedrich muss unbedingt gelobt werden.
Tiefe und Wahrhaftigkeit
Der Bayreuther Tannhäuser ist einer von uns. Die wunderbare, subtil verrückte auf den Kopf gestellte Welt, in welcher alle miteinander wirken, ganz auf ihre Art: frei im Handeln, Tun oder Sein trotz aller Hindernisse. Wir brauchen solche, sich und uns befragenden Weltinnenschauen. Sie verwandeln und beglücken!
Tobias Kratzer ist es gelungen, den Tannhäuser aus dem Lichte seiner Zeit zu erkennen und das Werk als zeitgeistiges, wandelbares Kunstwerk für alle zu entschlüsseln, ohne dessen utopische Sprengkraft, seine romantische Idee, den Zwiespalt und Dilemma, in welchem sich die Künstlerpersönlichkeit Tannhäuser befindet, auszusparen. Tosender, langer, wohlverdienter Applaus mit Standing Ovations für alle. Bravo!
Tannhäuser
Musikalische Leitung: Nathalie Stutzmann
Regie: Tobias Kratzer
Bühne und Kostüm: Rainer Sellmaier
Video: Manuel Braun
Licht: Reinhard Traub
Dramaturgie: Konrad Kuhn
Chorleitung: Eberhard Friedrich
P.S. Siegfrieds jubilierendes Waldvögelchen hat hinter vorgehaltener Schwinge kundgetan, dass der Kratzer-Tannhäuser 2026 auf den Grünen Hügel zum großen 150-jährigen Wagner-Happening zurückkehrt!
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